MEDIZIN Schlechter Raster
Daß Hitler und Stalin, aber auch Jesus und US-Präsident Abraham Lincoln »schizophren« gewesen seien, ist von angesehenen Nervenärzten lang und breit dargelegt worden. Das Etikett »Schizophrenie« klebt aber auch an weniger bedeutenden Zeitgenossen, gegenwärtig über einer halben Million Bundesbürgern (ein Prozent der Bevölkerung) und zwei bis drei Millionen Amerikanern. Die folgenreiche Diagnose kennt keine Grenze mehr: Sowjetärzte sind sicher, daß politische Dissidenten an »chronischer Schizophrenie« leiden, weil sie »übertriebene Vorstellungen von ihrer eigenen Wichtigkeit« haben und »uneinsichtig« auf der Richtigkeit ihrer Ansichten beharren.
Im Fachgespräch mit US-Psychiatern zeigten sich die Sowjetärzte überrascht, daß »nicht alle amerikanischen Hippies schizophren« sind -- so Doktor Jimmie Holland vom New Yorker Albert-Einstein-College für Medizin über ihre Erlebnisse auf einer Rußlandreise.
Die »American Psychiatrie Association« hingegen hat sich 1975 der Auffassung angeschlossen, daß nicht Dissidententum, sondern wahrscheinlich »Rassismus die einzig ansteckende Geisteskrankheit« sei, mithin »Rassismus das öffentliche Gesundheitsproblem Nummer eins« -- jedenfalls in USA. Als die Vollversammlung der Vereinten Nationen kurz darauf auch Zionismus als eine Form des Rassismus definierte, hatte die Psychiatriegruppe Mühe, dem Bumerang auszuweichen.
Erfahrungsgemäß werden die Seelenärzte mit solchen Schwierigkeiten, sagt einer der ihren, der Professor Thomas 5. Szasz 58, jedoch ziemlich leicht fertig. Schließlich sei es ihnen ohne Aufhebens gelungen, ihre lange Zeit vehement verfochtene These, Homosexualität sei KrankheiL, unauffällig ad acta zu legen. Auch die noch in diesem Jahrhundert als Ursache der Schizophrenie angeschuldigte Onanie ist inzwi-
* Historische Darstellung von Lincolns Ermordung.
schen rehabilitiert -- mittlerweile gilt als seelisch defekt, wer es niemals mit sich selbst getrieben.
Und nicht jeder »eigensinnige Dummkopf, bösartige Tyrann, verschrobene Spinner, überpedantische Plänemacher, gehemmte Musterknabe oder Tagträumer« muß derzeit damit rechnen, als »schizophren« erklärt zu werden, so wie dies der Gründungsvater der modernen psychiatrischen Vererbungslehre, Franz Joseph Kallmann, noch 1938 vorschlug.
Dem angesehenen Psychiater galten die »ungeselligen, kalten, unentschlossenen und fanatischen Typen« als schizophren, dazu solche »Psychopathen«, deren »Abnormität« sich in »Frömmelei, Habgier, Aberglaube, Mißtrauen, Halsstarrigkeit oder Aufsässigkeit« in auffallendem Grad kundtat.
Gegenwärtig, so rät die Weltgesundheitsorganisation (WHO), sollten nur noch vier »Erfassungskriterien« zur Diagnose Schizophrenie herangezogen werden: »Erstens Wahnideen. Zweitens ausgesprochen unpassendes oder ungewöhnliches Verhalten. Drittens Halluzinationen. Viertens Hyper- und Hypoaktivität.«
Doch was wie ein verläßlicher Raster zur Erkennung einer weitverbreiteten Krankheit aussieht, ist für Professor Szasz nichts weiter als »Schwindel«, »Humbug«, eine »Erfindung«, ersonnen von »psychiatrischen Klugscheißern"' die lieber Polizist als Arzt sind.
Der gebürtige Ungar, akademischer Lehrer an der State University of New York, als Psychiater und Psychoanalytiker ausgebildet und 1973 zum (US) »Humanisten des Jahres« gewählt, gilt als bedeutendster Kritiker des Psychiatriebetriebes, als ein Kavallerist ohne Furcht. Sein Tadel, niedergelegt in einem jetzt auch auf deutsch erschienenen Buch*: »Schizophrenie ist keine Krankheit. Es gibt sie gar nicht. Schizophrenie ist ein Wort, nur ein Wort.«
Erfunden wurde das Wort Schizophrenie 1911 in Zürich, und folgerichtig gilt dem rüden Kritiker Szasz dessen Schöpfer, der Schweizer Psychiatrieprofessor Fugen Bleuler, als der größte Schurke im Psychodrama. Bleuler habe, lehrt Szasz, ohne jemals einen anatomischen oder sonstwie handfesten Beweis vorzulegen, gewissen »Verhaltensauffälligkeiten« wie »mißbilligtes Betragen« oder »hartnäckiges Schweigen« mit anderen »Zuständen«, etwa Muskelstarre, zu einer Erkrankung des Gehirns ernannt und das Ganze »Schizophrenie« getauft**.
Nicht nur die seit 1911 mehrfach wechselnden Theorien über ihre Entstehung und angemessene Behandlung, sondern durch die von Kultur zu Kultur, Jahrzehnt zu Jahrzehnt sich wandelnde Definition dessen, was »schizophrenes Verhalten« eigentlich sei, beweisen laut Szasz daß Schizophrenie »nicht entdeckt, sondern erfunden« wurde. Sie sei nicht das »Ergebnis empirischer oder wissenschaftlicher Arbeit, sondern ethischer und politischer Entscheidungen«.
In Wirklichkeit sei es so, daß die »Irren, die wir als schizophren bezeichnen«, nicht so sehr »gestört als vielmehr störend« sind. Es gehe weniger darum, daß sie »selbst leiden, obwohl auch das der Fall sein kann, als darum, daß andere unter ihnen zu leiden haben«. Diese anderen überantworteten die Schizophrenen, die meist gar keine »ärztliche Hilfe« wünschen, der »Zwangspsychiatrie«. Im Irrenhaus lande, schreibt Szasz, »wer anderen zur Last falle« und werde dort wie ein Sklave traktiert, mit Insulin- und Elektroschock, Wasserbad und Psychopharmaka. Mit Heilkunst habe das alles gar nichts zu tun.
Weltweit sei Zwangspsychiatrie vielmehr, ebenso wie die Jurisprudenz und der Strafvollzug, »eine Disziplin zur Kontrolle sozialer Abweichungen Was die vier gegenwärtig geltenden »Erfassungskriterien« der Schizophrenie angehe, so lasse sich darunter alles mögliche summieren: unter dem Begriff »Wahnideen« zum Beispiel die Vorstellung, daß Jesus der Sohn Gottes sei und gestorben ist, aber wieder auferstand und heute noch lebt; unter
* Thomas S. Szasz. Schizophrenie -- das heilige Symbol der Psychiatrie. Europaverlag, Wien -- München -- Zürich; 228 Seiten; 29,80 Mark. ** Schizophrenie = Spaltungsirresein. von griech. »schizein' = spalten und »phren« Geist, Seele.
»ungewöhnliches Verhalten« das Tragen von langem oder kurzem oder gar keinem Haar; unter »Halluzinationen« die Zwiesprache mit Gottheiten oder Toten; unter »mangelnder Aktivität« das Herumsitzen eines Arbeitslosen; unter »Hyperaktivität« die Reise eines Psychiaters um die halbe Welt, nur um an einem Kongreß teilzunehmen und dort in den Referaten einzuschlafen.
Die ganze Psychiatrie, sagt Szasz ist »ruiniert«, verkommen zu einer »Rechtfertigung und praktischen Anwendung verschiedener Systeme profaner Ethik«.
Eines fernen Tages werde sie deshalb, Strafe muß sein, aussterben wie Pocken, Pest und Cholera.