MEDIZIN Schlüssel zum Gehirn
Im Jahr der Kaiserkrönung Napoleons isolierte der Paderborner Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner aus der Milch des Schlafmohns einige farblose, seidenglänzende Kristalle. Wegen ihrer schlaffördernden Wirkung nannte er sie -- nach dem griechischen Traumgott -- Morphium.
172 Jahre später sind Sertürners Kristalle noch immer das am weitesten verbreitete Mittel gegen übermächtige Schmerzen -- und zugleich Crux für Millionen von Süchtigen.
Nun aber sind die Biochemiker gewissen Substanzen auf der Spur, die vielleicht das zweischneidige Morphium ablösen könnten.
Das amerikanische Fachblatt »Bram & Mind Bulletin« nannte es einen »dramatischen Fund«, der Wissenschaftlern im schottischen Aberdeen gelungen sei, und konstatierte ein zwiefaches Wettrennen: Die Pharma-Industrie verspricht sich einen Marktrenner von Valiumformat; die beteiligten Wissenschaftler hoffen auf den Nobelpreis.
Den »Beginn einer neuen Ara in der Schmerzforschung« registrierte der britische »New Scientist": Die Stoffe, um die es geht, stammen nicht aus der Retorte, sondern werden im menschlichen und im tierischen Gehirn produziert.
Die hohen Erwartungen, welche die Wissenschaftler an die gehirneigenen Eiweißkörper knüpfen, zielen in zwei Richtungen:
* Die Substanzen eröffnen die Möglichkeit, einen morphiumähnlichen Schmerzkiller zu entwickeln -- und dabei die Sucht auszuklammern.
* Die neuentdeckten Stoffe könnten geeignet sein, biochemische Störungen im Gehirn zu behandeln, die psychische Leiden oder sogar Geisteskrankheiten wie Schizophrenie auslösen.
Vor gut einem Jahr entdeckten die Biochemiker John Hughes und Hans Kosterlitz von der schottischen Universität Aberdeen in Schweinehirnen einen Eiweißstoff ("Gehirnpeptid"), der sich als Schmerzmittel bewährte -- offenbar blockiert er bestimmte Schmerzrezeptoren im Gehirn.
Besonders vielversprechend war dabei die Feststellung, daß die Substanz, Enkephalin genannt, im Tierversuch keine Sucht erzeugt -- wahrscheinlich, weil der Stoff im Gehirn alsbald wieder chemisch abgebaut wird.
Die Gegenprobe bestätigte diese Hypothese: Wurden die Ratten per Dauertropf mit Enkephalin versorgt, wurde also der chemische Abbau der Substanz für einen längeren Zeitraum überspielt, stellten sich sehr wohl Entzugserscheinungen ein, sobald die Wissenschaftler den Tropf stoppten.
Während ein Teil der Bio-Forscher dazu neigt, die Enkephaline für eine neue Klasse sogenannter Neurotransmitter zu halten -- chemische Botenstoffe, die Nervenimpulse weiterleiten -, glauben andere, daß es sich um Fragmente eines Riesenmoleküls handele, »das irgendwo im Gehirn herumhängt« ("New Scientist").
Auf der schottischen Spur weiterforschend. isolierte der kalifornische Biochemiker Roger Guillemin vom Salk Institut in La Jolla aus 250 000 Schafshirnen drei weitere Hirneiweißkörper, die nun erst recht die Wissenschaft faszinieren.
Die Eigenschaften dieser sogenannten Endorphine*, von denen bislang drei Varianten (Alpha, Beta und Gamma) isoliert wurden, sind unterschiedlich, teils sogar gegensätzlich.
Während die Alpha-Version im Rattenversuch einen milden, schmerzstillenden und beruhigenden Effekt zeigte, machte das Gamma-Endorphin die Ratten ungewöhnlich aggressiv.
Als »die wirksamste der von uns untersuchten Substanzen« bezeichnete Salk-Forscher Guillemin die dritte, die Beta-Variante. Sie rief bei den Ver-
* Endorphine: zusammengezogen aus endogen (von innen her stammend) und »Morphin«.
suchstieren für mehr als drei Stunden einen Starrezustand (Katatonie) hervor, wie er bei Schizophrenen mitunter auftritt. Die Ratten, so Guillemin, lagen in dieser Phase »steif wie ein Brett« da.
Zur wissenschaftlichen Sensation wurde das Experiment, als die Forscher noch einen logischen Schritt weitergingen. Sic verabreichten den erstarrten Ratten Naloxon, einen chemischen Gegenspieler des Morphins. Resultat: Innerhalb von Sekunden »erwachten die Ratten und sprangen fröhlich umher«,
Guillemins Vermutung: Das Endorphin, das bestimmte Gehirnrezeptoren besetzt hält und so den Starrezustand auslöst, wird durch den Gegenspieler Naloxon gleichsam hinweggeschwemmt.
Sollte dieser biochemische Mechanismus sieh auch beim Menschen, etwa bei Schizophrenen, nachweisen lassen, so wäre ein Schlüssel zur Behandlung solcher Geisteskrankheiten gefunden.
»In ein paar Monaten«, meinte Guillemin im Spätsommer in Hamburg, »werden wir sehen können, ob sich solche Hirneiweiße bei schizophrenen Patienten finden und ob wir die Symptome dieser Kranken durch ein paar Injektionen beeinflussen können«
Vorletzte Woche kam eine erste Bestätigung der Guillemin-Hypothese von schwedischen Wissenschaftlern. Eine Forschergruppe, angeführt von dem Biochemiker Lars Terenius, hatte das Naloxon halluzinierenden Schizophrenen eingespritzt.
»Minuten später«, so der Erfolgsbericht aus Schweden, »meldeten die Patienten, daß ihre »inneren Stimmen"« verstummt seien.«