RAUMFAHRT / US-MONDRAKETE Schmach verwunden
Gleich einem wandernden Dom glitt der Welt mächtigste Rakete im Morgengrauen des 26. August zur fünf Kilometer entfernten Abschußrampe. Zehn Stunden dauerte die Reise des Raupenfahrzeugs, das Amerikas erste flugtüchtige »Saturn V«-Rakete samt Wartungsturm von der Montagehalle zum Start-Komplex 39 brachte.
Dort harrte vergangene Woche das 119 Meter hohe Raum-Geschoß der letzten Tests und Startvorbereitungen -- ein gefesselter Gulliver, an dessen Körper die Liliput-Gestalten behelmter Techniker herumklettern.
Acht Wochen lang überprüften Ingenieure und Computer nochmals jede Pore in der Metallhaut des Giganten, jede Funktion seiner Nerven und Eingeweide. Ende dieser Woche soll das Ungetüm -- die größte und schwerste Last, die sich je in den Weltraum hob -- zum ersten, noch unbemannten Versuchsflug starten: zum Raum-Unternehmen »Apollo 4«.
Der Feuersturm aus den Triebwerken der Saturn V wird die letzte Phase eines Abenteuers ankünden, das in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist.
»Noch vor sechs Jahren«, so erinnert sich der Nasa-Techniker Francis Coenen, »wußten wir nicht, wie wir eine zehn Meter hohe Raketenstufe hinkriegen sollten. Wir wußten nicht, woher wir sie nehmen sollten oder wie wir sie bauen könnten.«
Seither haben die USA nahezu 100 Milliarden Mark in das Mond-Vorhaben investiert. Eine Armee von rund 300 000 Wissenschaftlern, Ingenieuren und Hilfskräften wurde mobilisiert, und mehr als 20 000 Industriefirmen traten in den Dienst des größten Ent-
* Mit Kurt Debus, Direktor des Raumflug-Zentrums Cape Kennedy.
wicklungs- und Forschungsunternehmens. das jemals ausgeführt wurde.
Für allein fünf Milliarden Mark installierten die Amerikaner auf Cape Kennedy ihren Mond-Bahnhof. Wenige Kilometer entfernt errichteten sie eine Monster-Montagehalle (158 Meter breit, 219 Meter lang, 160 Meter hoch), in der die Saturn-V-Riesen zusammengebaut werden. 15 der Super-Raketen sind bestellt. Stückpreis: 540 Millionen Mark. Der nationale Kraftakt zeitigte Erfolg: Voraussichtlich noch diesseits der von Präsident Kennedy bestimmten Zeitmarke -- 1970 -- werden US-Astronauten zum Erdtrabanten aufbrechen können.
Die Himmelsstürmer reisen mit einem Gefährt, das beim Start einer überdimensionalen Sprengbombe gleicht. Aufgetankt mit fast vier Millionen Liter hochexplosivem Treibstoff (Schubkraft: 150 Millionen PS), wiegt der Koloß rund 3000 Tonnen, fast ein Drittel mehr als ein Zerstörer der US-Marine.
Den geplanten Ablauf der Mondreise erläuterte Amerikas Raketen-Baumeister Wernher von Braun jüngst deutschen TV-Zuschauern an einem etwa meterlangen Saturn-V-Modell. Von der Spitze der Nachbildung pflückte von Braun zunächst ein bleistiftförmiges Röhrchen -- die in Wahrheit zehn Meter lange Rettungsrakete, die im Falle eines Fehlstarts die Kommandokapsel mit den Raumpiloten von der Rakete wegreißen soll.
Sodann rupfte von Braun das untere Drittel des Projektils ab: die erste, 42 Meter lange Antriebsstufe, die nach zweieinhalb Minuten Flugdauer abgestoßen wird. Die fünf mächtigen »F-1«-Triebwerke der Riesenröhre verteuern in jeder Flugsekunde 13 000 Liter Brennstoff, insgesamt 54 Bahn-Tankwagen mit flüssigem Sauerstoff und Kerosin.
Von Braun zerkleinerte das Mondfahrzeug weiter. Er beraubte die Rest-Rakete ihrer zweiten Antriebseinheit (Originallänge: 25 Meter), die ebenfalls noch während des Aufstiegs abgesprengt wird. Erst die dritte Saturnstufe befördert das Projektil auf eine Erdumlaufbahn.
Nach einigen Erdumkreisungen wird das Triebwerk der dritten Saturnstufe erneut gezündet. Es dirigiert das Raumgefährt in Zielrichtung Mond und treibt es mit einer
Anfangsgeschwindigkeit von 40 000 Kilometern je Stunde aus dem Schwerefeld der Erde.
Vor der Fernsehkamera zerstückelte von Braun auch den nun noch verbliebenen Rest seines Saturn-Modells: Er amputierte die kegelförmige Spitze des Raumschiffs, die
Kommandokapsel, und pfropfte sie sodann umgekehrt auf die nächsttiefere Saturn-Etage: die Mondfähre, mit der die Astronauten auf dem Trabanten niedergehen sollen.
Wenn die Raumpiloten auf dem Mondflug dieses Umkehr- und Koppel-Manöver erledigt haben, wird auch die dritte Stufe abgestoßen. Nur mit dem Apollo-Raumschiff -- die Mondfähre bleibt am Zielplaneten zurück -- fliegen die Astronauten schließlich wieder erdwärts.
Acht Tage nach dem Start des Saturn-Giganten taucht das Mondgefährt in die irdische Lufthülle ein -- mit einer Geschwindigkeit von 40 000 Stundenkilometern. Das Antriebs- und Versorgungsaggregat der Astronauten-Kabine wird noch vor der Landung abgeworfen -- Raketen-Chef von Braun, auf dem Bildschirm demonstrierend, drehte den letzten Bauteil seines Saturn-Modells zwischen Daumen und Zeigefinger: einen Holzkegel von der Größe einer Streichholzschachtel.
In dieser Woche will Amerikas oberster Schießmeister den Saturn-Flug am Original erproben. Freilich soll der erste der feuerspeienden Saturn-Giganten eine vergleichsweise bescheidene Mission erfüllen. Das Mond-Raumschiff soll zweimal den Erdball umfliegen und dann zur Landung im Pazifik ansetzen.
Das Landungsmanöver -- der Rücksturz der Kommandokapsel in die Erdatmosphäre -- bildet den Kernpunkt des Testflugs (Kosten: rund 700 Millionen Mark). Die Nasa-Techniker wollen vor allem den sogenannten Hitzeschild der Raumkapsel erproben, eine Schutzhülle aus Keramik und rostfreiem Stahlblech, die beim Eintauchen in die dichte Lufthülle der Erde einer Reibungshitze von 2500 Grad standhalten muß.
Wenn das gewagte Raumflugunternehmen »Apollo 4« gelingt, steht Amerika ein nationaler Triumph bevor. Die Saturn V trägt viermal soviel Nutzlast wie die derzeit stärkste sowjetische Rakete ins Weltall -- mit ihrem gelungenen Probestart wäre die Schmach verwunden, die Amerika seit Beginn der Raumfahrt-Ära bedrückt hat: die Überlegenheit sowjetischer Raketen.
Doch zur selben Zeit, da die Vereinigten Staaten einen möglicherweise nicht mehr aufzuholenden Vorsprung im Raum-Rennen für sich verbuchen können, droht die nationale Kosmos-Begeisterung wieder zu erlahmen.
Kostspielige Sozialaufgaben und die wachsende Last des Vietnamkriegs bewogen den US-Kongreß, den Raumfahrtetat für 1968 um etwa zweieinhalb Milliarden Mark -- fast zehn Prozent -- zu kürzen. Zugleich zögern Regierung und Kongreß, den Raumpionieren ein neues Ziel zu setzen -- etwa die Eroberung des Mars, ein Unternehmen, das freilich rund 240 Milliarden Mark verschlingen würde, fast dreimal soviel wie das Mondprojekt »Apollo«.