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KARTOGRAPHIE Schräg von oben

aus DER SPIEGEL 14/1964

Amerikas Armee - Kartographen zollten ihm das höchste Lob: Sie rühmten ihn als »einen der produktivsten und einfallsreichsten modernen deutschen Künstler«.

Amerikanische Manager zahlten ihm das bislang höchste Honorar seiner Karriere: Für 160 000 Mark entwarf der Braunschweiger Kartenzeichner Hermann Bollmann, 52, die offizielle Wanderkarte für die Besucher der New Yorker Weltausstellung

Der - hochdotierte - einzige bundesrepublikanische Beitrag zur New Yorker Schau ist ein weltausstellungswürdiges Kuriosum. Wie bei herkömmlichen Grundrißkarten ist auf dem Bollmann-Plan jeder der 175 Pavillons, jede Hochstraße und jeder Baum im Ausstellungsgelände am Hudson exakt festgehalten. Aber auf Bollmanns farbigen Faltkarten ist - buchstäblich darüber hinaus - jedes Detail dreidimensional verzeichnet: Der Planbetrachter übersieht die gesamte Ausstellung, als säße er in der Plexiglas-Kanzel eines Hubschraubers.

Die kartographische Vogelschau, aus der Bollmann heute amerikanische Wolkenkratzer anvisiert, hatte der biedere Niedersachse erstmals vor 20 Jahren erprobt - in der russischen Steppe. Bauernsohn Bollmann, der als junger Graphiker Holzschnitte und Stahlstiche gefertigt hatte, war als Soldat einer Armee-Kartenstelle zugeteilt worden und hatte während des Rückzugs allabendlich

Stellungskarten seiner eingeigelten Kampfgruppe zeichnen müssen. Bollmann: »Da längst nicht jeder Landser die normalen Kartensymbole lesen konnte, habe ich damit begonnen, die Landschaft praktisch aufzuklappen. Ich habe Panjehütten, Bäume und Geschütze so gezeichnet, wie das Auge sie sieht.«

Aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt, faßte der stellungslose Stellungs-Zeichner den Plan, das Ausmaß der Zerstörung in seiner Heimatstadt Braunschweig »aus der gleichen Militärperspektive zu erfassen«. Ein selbstkonstruiertes tragbares Zeichenbrett vor den Bauch geschnallt, durchstreifte er die Stadt und skizzierte erhaltene und zerstörte Gebäude so genau, daß kein Fenster, keine stehengebliebene Wand und kein Balkon fehlten. Mit Zuschüssen von Firmen, deren Standorte er vermerkte, finanzierte der Graphiker den Druck des Plans.

Der Erfolg war frappierend: Die Braunschweiger Bollmann-Karte war binnen kurzem vergriffen; andere Städte meldeten ihr Interesse an. Bollmann zeichnete von 1950 bis 1960 nicht weniger als 20 Städte, darunter Amsterdam, Köln und Luxemburg. Seither wächst seine Produktion jährlich um drei Städte. Der Kartenzeichner beschäftigt mittlerweile einen sechsköpfigen Mitarbeiterstab. Und Fachzeitschriften nannten ihn den »Merian des 20. Jahrhunderts«.

Der Braunschweiger Kartographiker perfektionierte Blick- und Handfertigkeit derart, daß er schon bei der architektonischen Bestandsaufnahme auf der

Straße druckfertige Zeichnungen zustande brachte. So benötigte er für die Aufnahme Goslars eine Woche, in Frankfurt nur zwei Monate, in Amsterdam ein Vierteljahr. Schließlich erschien ihm jedoch diese Augen- und Handarbeitsweise zu krisenanfällig. Er begann, seine »Augen durch Kameras zu ersetzen«.

Jedes Gebäude, das in eine Bollmann -Bildkarte aufgenommen werden soll, wird zuvor ein dutzendmal aus der Luft und aus der Fußgängersicht photographiert. Der Auslöser einer Weitwinkel -Kamera auf dem Dach eines Volkswagens ist mit der Tachometerwelle des Autos gekoppelt: Unabhängig von der Fahrgeschwindigkeit wird der Verschluß in jeweils gleichen Meter-Abständen geöffnet und der Film mit sich überlappenden Reihenbildern belichtet.

Nach einem ähnlichen Prinzip arbeiten die acht Kameras, die Bollmann in sein Sportflugzeug einbauen kann. Ein vor dem Objektiv rotierender Spiegel fängt während des Fluges mehrere nebeneinander liegende Geländestreifen gleichzeitig ein. Auf diese Weise kann Bollmann eine Großstadt in 20 Minuten mit 7000 bis 8000 Aufnahmen vollständig erfassen - so genau, daß auf den Straßen die Autotypen erkennbar sind.

Mehr als 50 000 Boden- und rund 17 000 Luftaufnahmen mußten seine Mitarbeiter zusammentragen, als Bollmann 1962 den Auftrag erhielt, eine Vogelschaukarte der City von New York zu verfertigen - ein Vorhaben, wie es seit einem Jahrhundert kein Kartenzeichner mehr gewagt hatte.

Bollmann verblüffte seine New Yorker Auftraggeber mit einer kartographischen Rekordleistung: Hatten der Pariser Verlag Blondel la Rougery und sein Zeichner Peltier für die 1957 edierte Vogelschaukarte von Paris mehr als 20 Jahre Fleißarbeit benötigt, so stellte Bollmanns Mannschaft den New-York -Plan in sechs Monaten her. Und Monate dauerte es nur, bis die ersten 500 000 New-York-Bildpläne verkauft waren. Mittlerweile wurden bereits mehrere Millionen abgesetzt.

Noch bevor Bollmann den nächsten amerikanischen Auftrag, einen Bildplan von Washington, anpacken konnte, sicherte sich der Zeitungs-Konzern des »Time«-Herausgebers Henry Luce Bollmanns Vogelschau-Talent für die Herstellung des offiziellen Weltausstellungsplanes.

Diesmal freilich hatte der Braunschweiger Merian ein für ihn neuartiges Problem zu lösen: Noch Mitte März, als der Vertrieb des Weltausstellungsplanes bereits anlief, war ein großer Teil der Schau-Gebäude nur halb fertig.

Vier Monate lang hatten Bollmann -Mitarbeiter die Baupläne der Architekten wälzen und sie in die Hubschrauber -Perspektive ihrer künftigen Realität übersetzen müssen. »Es gab weder Grund- noch Aufrisse herkömmlich europäischer Art«, stöhnte Bollmann, »nur Zahlen, viele Zahlen.«

Aber der ungewöhnliche Arbeitsaufwand zahlte sich aus - der Auftrag war am Ende noch weit lohnender, als der niedersächsische Kartenzeichner es erwartet hatte. Bollmann: »Ich hatte nur 40 000 Mark haben wollen. Aber die haben den Betrag einfach in Dollars ausbezahlt.«

Kartenzeichner Bollmann (l.), Bollmann-Karte*: Merian des 20. Jahrhunderts

* Vogelschau-Karte von Augsburg; rechts ein Mitarbeiter.

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