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Schreiende Stille

SPIEGEL-Redakteur Hellmuth Karasek über Pinter und Mamet in Stuttgart *
aus DER SPIEGEL 5/1986

Auf einer Cocktailparty, so erzählt der britische Dramatiker Harold Pinter, habe er zwei attraktive und intelligente junge türkische Frauen getroffen und versucht, mit ihnen über Folterungen in der Türkei zu sprechen.

Die beiden hätten gesagt, es handle sich ja bei den Gefangenen nur um Kommunisten, und man müsse sich schließlich gegen die Kommunisten schützen. Pinter: »Daraufhin ging ich, statt sie zu erwürgen, unverzüglich nach Hause, setzte mich hin und begann, zugegebenermaßen aus reiner Wut, ''Noch einen Letzten'' zu schreiben.«

»Noch einen Letzten« (One for the Road), Pinters Stück über die Folter, wurde vorletzte Woche in Stuttgart erstaufgeführt. Das Stück hat also, für Pinters Verhältnisse, eine seltsame, klar umrissene, politisch eindeutige Stoßrichtung. Es ist ein dramatisches Manifest, ein politisches (Bühnen-)Pamphlet gegen die Folter, wie sie, laut Amnesty International, in mindestens 70 Ländern auf westlicher und östlicher Seite, in Chile wie in Polen, in Südafrika wie im Iran oder in der Türkei praktiziert wird.

Pinter macht sich dabei keine Illusionen über die Wirksamkeit seines Stücks. Er zitiert Samuel Beckett: »Man muß weitermachen, ich kann nicht weitermachen, man muß weitermachen, ich werde also weitermachen.«

Schon daß die Folter (zum Beispiel hier, in diesem Bericht) erwähnt wird, daß an die Tatsache des Folterns (vom kruden Quälen bis zur diffizileren Isolationsfolter) erinnert wird, lohnt Pinters 35-Minuten-Stück, von dem eine angstauslösende Wirkung ausgeht, weil es die Folter eher durch ihre Aussparung, durch die lakonische Schilderung ihrer Verwüstungen schildert.

Der Zuschauer wird nicht, sadistisch?, masochistisch?, eingeladen, an Folterungen, die auf der Bühne nachgestellt werden, teilzuhaben - er wird vielmehr mit der schreienden Stille konfrontiert, die als Nachhall und Vorgeschmack der Folter entsteht.

Vorgeschmack und Nachhall: In Stuttgart hatte Rolf Glittenberg für »Noch einen Letzten« einen Raum gebaut, in dem sich etwas Wüstes, eine Mischung aus Blutbad und Sauforgie, zugetragen haben mußte, bevor der Vorhang aufging. Flaschen, Gläser, blutbeschmierte Wände, eine umgeworfene Lampe, gewissermaßen ein geschändeter bürgerlicher Luxus: Der Raum erzählte eine irritierende, auf pinterhafte Weise verrätselte Vorgeschichte. War es die Villa des Opfers? Irgendeines Opfers? Das Hauptquartier irgendeiner Gestapo, die da folterte und feierte, vielleicht sogar gleichzeitig?

Vier Figuren. Drei Opfer, ein Folterer. Ein Mann, seine Frau, ihr siebenjähriger Sohn. Der Folterer heißt Nicolas, seine Opfer Victor, Gila, Nicky. Die Namen sind so gewählt, daß jedes Land gemeint sein könnte, jedes gräßliche Niemandsland, in dem gefoltert wird.

Jedes? Pinter läßt eigentlich keinen Zweifel daran, daß es ihm in erster Linie _(Mit Hans-Michael Rehberg und ) _(Friedrich-Karl Praetorius. )

um die Folter auf »unserer Seite« geht, er möchte sich jenes pharisäerische. selbstgerechte »Aber die andern auch!« ersparen. Pinters Folterer führt dauernd den Namen Gottes im Mund, in dessen Namen er foltere. Gemeint ist »unsere Seite«. Diejenigen, die im Namen keines Gottes foltern, werden sich trotzdem wiedererkennen.

Der Folterer (in Stuttgart spielt ihn Hans-Michael Rehberg als ein bedrohliches menschliches Wrack, das seine Gefährlichkeit einer aggressiven Labilität und Schwäche abgewinnt), der Folterer foltert nicht. Er verhört nur, weidet sich an der Vorangst und an der schrecklichen Erinnerung an die Folter.

Seine Methode ist die, Anwesende mit Abwesenden zu foltern und zu quälen. Er schildert dem Mann, was der Frau und dem Sohn wohl gerade passiert. Er weckt Erinnerungen und droht mit Künftigem. Er rührt die Frau kaum an, zwingt sie nur, sich an ihre Vergewaltigungen zu erinnern. So vergewaltigt er sie noch ekliger, noch gemeiner.

Pinters Drama hat einen intellektuellen Schwächling zum Prototyp, der die Teppiche nicht selbst bepißt und seinen Opfern nicht selbst den Gewehrkolben ins Gesicht schlägt. Rehberg spielt diese eklige, nur selten explodierende Zurückhaltung des Folterers - einen, der seine Macht über Ohnmächtige wie einen schweren Rausch genießt, voller blinder Wonne und wie von nervösem Selbstekel geschüttelt.

Pinters Stück, das den sich auskotzenden Verhörbeamten vor seinen stummen und stumm gemachten Gefangenen sich geschwätzig spreizen läßt, ist auf entsetzliche Weise wortkarg:

Von dem Siebenjährigen sagt der Quäler zur Mutter: »Er ist ein kleines Arschloch«, er habe die Soldaten bespuckt. Das Stück endet mit dem Satz, an den Vater gerichtet: »Ihr Sohn? Oh, machen Sie sich weiter keine Sorgen um ihn. Er war ein kleines Arschloch.«

In Dieter Giesings Stuttgarter Inszenierung, die die kurze, böse, menschenfresserische Geschichte nicht etwa zu Kunst auflöste, verbreitete sich die zwiefache Angst, die das Stück verströmt.

Die Angst, ein Opfer zu sein. Mehr noch die Angst, ein Täter werden zu können. Pinters lakonisches Stück kennt keine Trennung zwischen Schuldig und Unschuldig. Es kennt nur Zustände, die Barrieren zwischen Menschen einreißen. Barrieren, die wir brauchen, um unsere Schwächen nicht brutal auf andere zu projizieren, sie zu vollstrecken.

Auch in dem »Noch einen Letzten« vorausgegangenen Mamet-Stück »Hanglage Meerblick« (es wurde in Düsseldorf erstaufgeführt) geht es um das Schwinden solcher Barrieren - allerdings in der Geschäftswelt. Das Stück spielt unter fünf Immobilienmaklern in Chicago, die Schund-Grundstücke in Florida an Kunden mit zuwenig Geld zu verscherbeln haben. Das System: Der beste Verkäufer des Jahres erhält einen Cadillac, der mit den zweitmeisten Abschlüssen ein Set Steakmesser. Die beiden schlechtesten werden gefeuert.

Wer schlechter wird, bekommt auch schlechtere Adressen, so daß er immer schlechter wird: eine gallige Komödie auf die Leistungsgesellschaft. Für dieses System ruinieren sich und einander die Makler, jeder ist jedes anderen Wolf, schnappt ihm Adressen weg. Außer der erbarmungslos schönfärberischen Phraseologie des Verkäufers haben die fünf nur noch Scheiße im Hirn (und auf der Zunge). Buchstäblich und wortwörtlich.

In Stuttgart spielt das Mamet-Stück eine Männer-Riege, wie sie glänzender zur Zeit wohl keine deutsche Bühne aufbieten könnte: Sieben großartige Schauspieler spielten sieben Wracks in verschiedenen Zuständen der Auflösung und Zerstörung. Rehberg den im Stürzen um sich schlagenden, einst erfolgreichsten Verkäufer, genannt »die Maschine«; Gerd Böckmann seinen aalglatten Schüler Roma, der sich längst jegliches Leben aus dem Leib gequatscht hat - eine italo-amerikanische Verkaufsruine im totalen Ausverkauf, eine Dreckschleuder im perfekten Leerlauf. Ein Totentanz in Chicago, auf Provision. _(Mit Gerd Böckmann, Hans-Michael Rehberg, ) _(Friedrich-Karl Praetorius, Hansjürgen ) _(Gerth, Michael Mendl. )

Mit Hans-Michael Rehberg und Friedrich-Karl Praetorius.Mit Gerd Böckmann, Hans-Michael Rehberg, Friedrich-Karl Praetorius,Hansjürgen Gerth, Michael Mendl.

Hellmuth Karasek

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