ELEKTRONIK Schuß ins Gitter
»Das Auto«, prophezeit der Münchner Elektronik-Professor Ingolf Ruge. »wird sich zum rollenden Starfighter wandeln -- vollgepackt mit Elektronik.«
Ruge selbst steuert diese Entwicklung schon seit drei Jahren an. In Zusammenarbeit mit dem Elektronik-Konzern Siemens erprobt der Zwei-Meter-Mann an der TU München ein neuartiges Verfahren, mikroskopisch kleine Bauteile etwa für Computer oder elektronische Steueranlagen herzustellen -- mit den Strahlenkanonen der Atomforscher.
Am kommenden Wochenende werden Ruge und seine Mitarbeiter die ersten Produkte präsentieren, auf einem Fachkongreß in Garmisch-Partenkirchen: Regler von haselnuß-Größe, deren Widerstände, Transistoren und Dioden durch Beschuß mit Atomen hergestellt worden sind.
Bisher werden die sogenannten Halbleiter, Skelett aller hochgezüchteten elektronischen Geräte, auf chemischem Wege und bei Temperaturen bis zu 1200 Grad gefertigt mit Ausschußquoten bis zu 60 Prozent. Überdies mußten die Hersteller aufgrund der hohen Hitzegrade nicht selten eine Verschlechterung der elektrischen Eigenschaften des Materials in Kauf nehmen.
Nun aber glauben die Bauelemente-Experten, solche Fehlerquellen ausräumen zu können: durch die praktische Nutzung atomarer Beschleuniger, mit denen sonst Kernphysiker experimentieren, um den Feinbau der Materie zu ergründen.
Die Geschwindigkeit der Ladungsteilchen in dem hauchdünnen Strahl des Münchner TU-Beschleunigers reicht aus, um die Oberfläche der Halbleiter-Materialien, Silizium oder Germanium, zu durchschlagen. Wie Schrotkugeln in eine Mauer dringen sie in das Kristallgitter des Halbleiters ein.
Effekt: Die Projektile (Bor-, Phosphor- oder Antimon-Teilchen) verändern die elektrische Leitfähigkeit des Siliziums. Und bestimmte Muster unterschiedlich »imprägnierter« Schichten erfüllen dieselben Aufgaben wie herkömmliche Transistoren, Widerstände oder Dioden.
In ihren Laborversuchen entwickelten die Münchner das sogenannte Ionen-Implantationsverfahren schon so weit, daß die gewünschten Abmessungen und elektronischen Eigenschaften der Bauelemente gleichbleibend reproduziert werden können -- wichtigste Voraussetzung für eine Massenfabrikation, bei der am Ende Computer vollautomatisch den Beschuß-Strahl lenken würden.
Einzelne Schaltkreise, die in oxidbeschichtete Silizium-Plättchen implantiert wurden, besitzen bereits die dreifache Rechenkapazität, verglichen mit ihren chemisch aufbereiteten Gegenstücken. Außerdem, so verkündete Ruge vorige Woche, sei die Zahl der Widerstände (bisheriger Raumbedarf: etwa ein Drittel der Schaltungsfläche) »drastisch reduziert« worden -- bei gleichzeitig erhöhter Leistung der verbliebenen.
Einen Vorsprung in der Implantations-Technik halten bislang die Amerikaner. Techniker der Hughes Aircraft Company implantierten unlängst mehr als 3000 Hochfrequenz -Transistoren in ein Silizium-Plättchen von der Größe eines Stecknadelkopfes. Doch offenbar will nun auch die westdeutsche Bauelemente-Industrie den Einstieg in das Geschäft mit implantierten Großschaltkreisen wagen.
Anfang Mai installierte Siemens in München den »ersten industriellen Reschleuniger in der Bundesrepublik« (so Projektleiter Dr. Herbert Weiß). AEG-Telefunken zieht schon im nächsten Monat nach -- mit dem Kauf eines amerikanischen Modells. Projekt-Chef Dr. Hans Strack, Heilbronn: »1971 wird der Durchbruch für die industrielle Technologie.«
Den mutmaßlichen Käuferkreis der neuartigen Bauelemente, die beispielsweise für Mini-Radargeräte auf Segelbooten, aber auch für alle anderen marktgängigen Elektronikgeräte tauglich wären, haben die Manager bereits abgesteckt: Konsumbürger, denen kaum das Prinzip eines Lichtschalters einleuchtet.