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FERNSEHEN / Telemann SCHWÄBISCHE KUNDE

aus DER SPIEGEL 40/1962

Am Morgen des 1. Oktober um 4.56 Uhr, einem Sendezeitpunkt, den der Programmdirektor des Süddeutschen Rundfunks, Dr. Peter Kehm, erschauernd »diese Stunde Null« nannte, widerfuhr dem Gemeinwesen Baden-Württemberg Günstiges: Es bekam ein neues Radio-Programm-Skelett.

»Wir glauben«, so schrieb Dr. Kehm in einer Begleitbroschüre, »daß es von entscheidender Bedeutung für die Bildung eines neuen Bewußtseins vom Hörfunk ist, die Gliederung des Programms so einfach und faßlich wie irgend möglich zu halten.«

Und: »Wir möchten dem Hörer die Möglichkeit geben, auch in den Stunden des Fernsehprogramms das liebe alte Dampfradio interessant und attraktiv zu finden«, sagte Südfunk-Intendant Dr. Hans Bausch auf einer Pressekonferenz.

Das neue »Rahmenprogramm«, vermöge dessen Hans Bausch vom Stuttgarter Hörfunk seinem Konkurrenten Hans Bausch vom Stuttgarter Sehfunk ein Schnippchen schlagen möchte, unterscheidet sich vom bisherigen wesentlich wie folgt:

- Die Nachrichtensendungen wurden um eine halbe Stunde vorverlegt, damit, besonders am frühen Abend, kein Seher das Hörenswerte vom Tage und kein Hörer das Werbefernsehen versäumt. Die Gesamtdauer der täglichen Nachrichtendienste erhöhte sich von 150 auf 170 Minuten.

- Die Mittelwelle bleibt ab 19.30

Uhr den Leichtkostgängern überlassen, wogegen Hörern mit gehobenen Ansprüchen ab 20 Uhr die Ultrakurzwelle zur alleinigen Verfügung steht.

- Anstelle verstreuter Einzelsendungen wurden »möglichst große Programmteile« geschaffen.

Das neue Radio-Schema im Kopf und die TV-Vorschau in der Hand, kann der baden-württembergische Gebührenzahler ab nun genüßlich vorausplanen, ja, kann sich endlich zu jenem Intendanten-Wunschtraumwesen emporentwickeln, das, wenn ihm eine Sendung mißfallen hat, nicht deren Urheber, sondern dem eigenen Ungeschick bei der Wahl dieser Sendung die Schuld gibt. Sprudeln ihm doch hinfort gleich vier vertauschbare Borne der Vergnügung: Erstes Fernsehen, Zweites Fernsehen, Mittelwelle, Ultrakurzwelle.

Um die epochale Novität in ihrem ganzen Folgenreichtum erfassen zu können, hat sich Telemann ein Phantom erdacht: den allfunk-bewußten Musterschwaben.

Was wird dieser - nehmen wir gleich den kommenden Sonntag -, was wird er am 7. Oktober für seine Muße tun?

Um 5.56 Uhr wird er - Südfunk-Mittelwelle - die Passepartout -Sendung »Choral, Morgenspruch« entgegennehmen. Sodann auf gleicher Frequenz den Frohen Klang am Sonntagmorgen«, die »Morgenandacht« und das »Choralblasen«.

Nach den Frühnachrichten, um 8.05 Uhr, wird er auf Ultrakurzwelle umschalten, um dort zwei Stunden lang »Einen schönen Sonntagmorgen« zu genießen; und um 10 Uhr steht der umsichtige Vorausplaner erstmals am Scheidewege. Soll er zum Zwecke der inneren Einkehr Karl Jaspers (Mittelwelle) oder Ludwig van Beethoven (UKW) Gehör schenken? Hier kann nur eine spontane Prüfung des Gemütszustandes helfen.

Um 11 Uhr hat Telemanns Modell -Alemanne bereits zwischen drei Erbaulichkeiten zu wählen: der Unterhaltungssendung »Am Sonntag um elf« (Mittelwelle), dem Vortrag »Die Relativität Gottes« (UKW) und der Fernsehdarbietung »Der Christ zwischen dem Anspruch Gottes und des Staates«. In Anbetracht vorabgeleisteter Besinnung wird er bis zum Beginn des »Internationalen Frühschoppen« (Deutsches Fernsehen und UKW) auf Mittelwellen-Empfang gehen.

Schließt Werner Höfer pünktlich um 12.50 Uhr, wird die Umschaltung zum Männerchor der Hockenheimer »Liedertafel 1874« (Mittelwelle) fugenlos zu vollziehen sein.

Um 13.10 Uhr schreitet der Idealschwabe auf UKW »Von Melodie zu Melodie«; um 14.30 Uhr absolviert er ein Wunschkonzert (Mittelwelle), und ab 15 Uhr sieht er fern: erst die »Deutschen Manschaftsmeisterschaften im Amateurtanzen«, dann das TV-Spiel »Die Feuertreppe«. Und Punkt 17 Uhr hebt auf Mittelwelle das sonntägliche Hörspiel ("Flußabwärts") an, das sich, laut Programmdirektor Kehm, nach wie vor »neben den Darbietungen des Fernsehens behauptet«.

Abends stehen zur Wahl: eine Haydn-Oper (Erstes TV-Programm), Schubert- und Brahms-Lieder (Mittelwelle), Pfitzners Musikalische Legende »Palestrina« (UKW) und eine Fernsehspiel-Wiederholung (Zweites TV-Programm). So wird sich der Phantom-Schwabe nach schweren inneren Kämpfen wohl für den Liederabend entscheiden.

Die wirklichen Württemberger aber - Bausch sei's geklagt - werden, so sie TV-Abonnenten sind, das »liebe alte Dampfradio« auch künftig nur noch für ein Auto- und Badestrand-Zubehör halten, mit dem sich bei Bedarf exotische Fußballschlachten und einheimische Schlager herbeiholen lassen.

Merke:"Nur die Hörer selbst können das Wunder vollbringen, jederzeit mit dem Programm zufrieden zu sein ...« (Dr. Hans Bausch, Intendant des Süddeutschen Rundfunks).

telemann
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