BALLETT »Schwanensee« unter Druck
Die Töne, die aus Wien kamen, klangen ungewöhnlich laut und dissonant. »Prinzipiell unkünstlerisch, konservativ und uninteressant« findet es Ioan Holender, Direktor der Wiener Staatsoper, daß oft schon jahrzehntealte Choreographien längst verstorbener Ballett-Meister aus dem Repertoire gekramt und immer wieder aufgeführt werden.
Vor allem aber, klagten auch die anderen Teilnehmer der internationalen Operndirektorenkonferenz Aido kürzlich in Wien, seien diese Aufführungen schlicht unbezahlbar. »Wir werden«, drohten die versammelten Intendanten im Chor, »Choreographien von George Balanchine, John Cranko und Kenneth MacMillan einfach in Zukunft nicht mehr aufführen.«
Die drei Tanzkünstler belebten das klassische russische Repertoire in diesem Jahrhundert mit eigenen Versionen: Sie studierten mit ihren Ensembles berühmte Tanzstücke, etwa Tschaikowskis »Schwanensee«, Prokofjews »Romeo und Julia«, Strawinskis »Kuß der Fee«, neu ein.
Viele der traditionellen Ballette verbinden sich inzwischen untrennbar mit ihren Namen, denn diese Interpretationen der drei Tanzgeschichten-Erzähler begeistern weltweit noch immer das Publikum und füllen jahraus, jahrein die Abendkassen der Opernhäuser.
Und die der Künstler: Dem Schöpfer eines geistigen Werks steht eine Tantieme zu, sobald das Stück, die Komposition oder die Choreographie aufgeführt oder verwertet wird, für die Theater eine teure Regelung. Anders als bei Opern- und Schauspielregisseuren, deren Inszenierungen einmalig mit dem Regiehonorar abgegolten werden, gelten die Schöpfungen von Choreographen als urheberrechtlich geschützt - bis 70 Jahre nach dem Tod des Künstlers.
Denn das Urheberrecht an den Choreographien ist vererblich und verschafft, so regelt es eindeutig das Gesetz, den Rechtsnachfolgern der Künstler grundsätzlich die gleichen Rechte wie dem Urheber selbst.
Cranko starb 1973 auf dem Rückflug aus den USA, nachdem er dort mit seiner berühmten Stuttgarter Truppe Triumphe gefeiert hatte.
Balanchine, Direktor des New York City Ballet, starb 1983, und Kenneth MacMillan, der in den sechziger Jahren Ballettdirektor an der Deutschen Oper Berlin war, 1992 in London. Seitdem kassieren die Erben für jede Aufführung der Werke der dahingegangenen Tanz-Meister.
»Wenn ich in meinem Spielplan ein paar Experimente machen will«, sagt Aido-Präsident August Everding, »muß ich mir pro Spielzeit mindestens ein- bis zweimal ,Schwanensee', oder was es da sonst so gibt, holen.« Das Publikum gehe nur in die neuen Stücke, »wenn es die alten auch kriegt«. So ein Gemischtwarenladen kann teuer werden.
Für das Recht, drei Jahre lang »Der Widerspenstigen Zähmung« von Cranko spielen zu dürfen, verlangen dessen Erben 100 000 Mark, plus fünf Prozent der Einnahmen jeder Vorstellung. In Einzelfällen sollten Theater sogar bis zu 500 000 Mark für eine alte Choreographie bezahlen. Soviel kostet günstigenfalls auch eine Neuinszenierung.
Die Bayerische Staatsoper jedoch - eines der am üppigsten subventionierten Häuser in Deutschland - kann für freie Engagements pro Spielzeit von ihrem 100 Millionen-Budget nur rund 3 Millionen Mark ausgeben.
Da muß dann der Intendant das Ballett gegen die Oper ausspielen. »Oder mehr XBohème' machen«, sagt Everding, »weil ich dafür nix mehr bezahlen muß. Das ist entwürdigend.« Diese Situation führt jetzt in Wien beispielsweise dazu, daß Direktor Holender seinen Ballettchef Renato Zanella anweist, auf klassische Premieren zu verzichten.
Damit nicht genug. Abgesehen davon, daß die Erben durch ihre hohen finanziellen Ansprüche dem Publikum letztlich vorenthalten könnten, was das Publikum in seiner Eigenschaft als Steuerzahler bei der Entstehung einer Choreographie an einem subventionierten Staatstheater schon einmal bezahlt hat, bestehen einige Nachkommen der Choreographen auch noch darauf, sogar künstlerisch in Wiederaufführungen einzugreifen.
In der Praxis droht dann etwa ein entfernter MacMillan-Verwandter damit, dessen »Lied von der Erde« platzen zu lassen, wenn nicht eine bestimmte Fachkraft das Ballett einstudiert oder seine Wunsch-Ballerina tanzt. »Ein künstlerisch und wirtschaftlich unzumutbarer Zustand«, klagt Everding. Es komme nun darauf an, einigte man sich bei der Wiener Direktorenkonferenz, hart zu bleiben. Wenn das gelänge, könnten die Erben der drei fraglichen Tanz-Regisseure demnächst womöglich ihrerseits unter Druck geraten.
Die jüngsten Wiederaufführungen von Cranko und MacMillan in Stuttgart und Berlin aber zeigten, daß sich das Problem womöglich von selbst erledigt: Die Stücke, die die Ballett-Meister der Welt hinterließen, scheinen gar nicht so alterslos zu sein, wie ihre Nachkommen glauben. »Als Eckpfeiler der Tanzgeschichte, wie es vor 30 Jahren schien«, urteilte etwa die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »mag man im Rückblick weder den einen noch den anderen Choreographen sehen.«