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BÜCHER Schwarz ist Weiß

»Doppeldenk« statt »Zwiedenken": Das Buch des Jahres, George Orwells »1984«, erscheint in einer neuen Übersetzung. *
aus DER SPIEGEL 6/1984

Bislang trugen die Parteimitglieder des Totalstaates Ozeanien einen »blauen Trainingsanzug« als Uniform, »Televisoren« überwachten das gesamte Leben, und auf dem allgegenwärtigen Bildnis eines Mannes »mit dickem schwarzen Schnauzbart und ansprechenden, wenn auch derben Zügen« prangte die Zeile: »Der Große Bruder sieht dich an.«

Im Jahre 1984, von nächster Woche an, liest sich George Orwells »1984« anders. Die Parteigenossen stecken in »blauen Overalls«, ein »Teleschirm« späht an jedwedem Ort, und unterm Bildnis des Mannes »mit wuchtigem schwarzen Schnurrbart und kernig-ansprechenden Zügen« droht es nun kurz: »Der Große Bruder sieht dich.«

»Big Brother is watching you«, mahnte es im Orwell-Original, »telescreen« hieß da das Schnüffel-Auge und »overalls« die Kader-Uniform - das Buch des Jahres erscheint jetzt in neuem, körpernah sitzendem Sprachgewand. _(George Orwell: »1984«. Neu übersetzt von ) _(Michael Walter. Verlag Ullstein; 316 ) _(Seiten; 20 Mark. )

Der Berliner Ullstein-Verlag, seit dem Jahre 1974 im Besitz einer deutschen »1984«-Taschenbuch-Lizenz (seit 1980 auch der Buch-Rechte), hatte bislang eine Übersetzung aus dem Jahre 1950 vertrieben. Sie war, mit rund 1,5 Millionen verkauften Exemplaren, ein Dauerbrutzler. Doch bedrängt vom nahenden Orwell-Jahr und von Anglistik-Professoren, die an der Ur-Übersetzung (Kurt Wagenseil) Ungenauigkeit und Altväterlichkeit monierten, beschloß der Verlag, den Gegenwart-gewordenen Zukunftsroman in einen Jungbrunnen zu tunken; mit ziemlichem Erfolg.

Der neue Dolmetsch, der Münchner Anglistik-M.A. Michael Walter, 33, hat bereits Orwells »Farm der Tiere« eingedeutscht, auch Diffizileres von Virginia Woolf, Lewis Carroll, Laurence Sterne; den Impuls zum schwierigen Handwerk gab ihm der Sprach-Esoteriker und Heide-Eremit Arno Schmidt.

Orwell war kein Stilfex, er schrieb lapidar und lakonisch, zuweilen trivial. Walter hält sich eng ans Original, dribbelt hart am Mann, manchmal neudeutsch flapsig: Er wollte »durch die Wortwahl die Aktualität herausstellen«, damit die Geschichte »nicht einfach als Fiktion abgeschoben werden kann«.

Korsettstangen preßten ihn allerdings beim Kernstück des Orwell-Textes, dem »Newspeak«, dem »Neusprech«, wie Walter eindeutscht ("Neusprache« beim Vorgänger). Neusprech, die kürzelhafte, hirnmanipulierende Amtssprache des totalitären Ozeaniens, sollte, so Orwell, möglichst aus »zwei- oder dreisilbigen Wörtern« bestehen und an ein »Staccatogeräusch« erinnern.

Das schuf, im silbenreichen Deutsch, Probleme - für Verständlichkeit und Durchschlagskraft. »Thinkpol« (Gedankenpolizei) haut mit »Denkpol« (früher: Denkpoli) noch hin, bei »crimethink« (Gedankendelikt) wird es kritisch: »Deldenk« übersetzt Walter, der Vorgänger »Verbrechdenk«.

Ähnliche Schwierigkeiten machen die »Neusprech«-Euphemismen - bundesdeutsches Beispiel: »Entsorgungspark« für Atommüll-Deponie. »Freudelager« für »joycamp« (wahrer Sinn: Zwangsarbeitslager) wirkt zu füllig für Neusprech; der Vorgänger lag mit »Lustlager« ganz daneben.

Zentrum der depersonalisierenden, demoralisierenden Zwang-Sprache ist der Begriff »Doublethink«; ohne ihn wäre auch Bonn arm dran. Kennwort für »doublethink« ist »Schwarzweiß«, und es meint, nach Orwell, beispielsweise, »im Widerspruch zu den offenkundigen Tatsachen impertinent zu behaupten, Schwarz sei Weiß«, andererseits die »Fähigkeit zu glauben, daß Schwarz Weiß ist«; und »zu vergessen, daß man jemals das Gegenteil geglaubt hat«.

»Doublethink« hieß in der Erstübertragung, trefflich, »Zwiedenken«. Walter wählte »Doppeldenk« dafür - das schafft die unglückliche Assoziation eines wiederholten Nachdenkens. Als Leit-Wort zum Verständnis politischer Vorgänge sollte es dennoch ins neudeutsche Vokabular eingehen.

»Quaksprech« hat gleichfalls Chancen. Es meint die Reduzierung von Gedanken und Wörtern zu dem Punkt, an dem »der Kehlkopf ohne Einschaltung der höheren Gehirnzentren« die Sprache artikuliert.

George Orwell: »1984«. Neu übersetzt von Michael Walter. VerlagUllstein; 316 Seiten; 20 Mark.

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