SCHRIFTSTELLER Schwarze Utopie
Die Titel ihrer Romane sind nichtssagend. »Töchter und Söhne«, »Eltern und Kinder« heißen sie etwa, oder »Die Gegenwart und die Vergangenheit": für den, der Leseabenteuer sucht, liegen solche Austauschformeln weit unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Sie entziehen sich der Konkurrenz der einprägsamen Buch-Überschriften durch offenbar kalkulierte Verwechselbarkeit. Unauffällig ist auch ihr Leben gewesen.
Ivy Compton-Burnett (1884 bis 1969) wurde als höhere Tochter in England geboren, hat Klassische Philologie studiert und dann, nach einem frühen, später verworfenen literarischen Debüt, im Alter von 40 Jahren angefangen, Romane zu schreiben, 19 Familienromane, die einander alle sehr ähnlich sind, und von denen sie allmählich in schöner Regelmäßigkeit alle zwei Jahre einen neuen verfaßte; selbst der Zweite Weltkrieg hat diesen Schreibtakt kaum stören können.
Für ihre Bücher ist sie in England mehrfach ausgezeichnet worden. Ansonsten hat sie Teegesellschaften gegeben und in den Alpen seltene Blumen gesammelt, zusammen mit ihrer Freundin Margaret Jourdain, die als Autorin von Büchern über alte Möbel bekannt geworden ist. Mit ihr hat sie über 30 Jahre lang in ihrer Londoner Wohnung zusammengelebt, von Besuchern eher beiläufig als die stille Dame im Hintergrund wahrgenommen, die dabeisaß, die Hände gefaltet oder mit einer Stickerei beschäftigt, allen zuhörte und alle beobachtete und nur manchmal eine trockene Bemerkung von sich gab. »Von außen betrachtet, ist mein Leben ereignislos gewesen«, so hat sie rückblickend sich selber kommentiert.
Von innen sieht das anders aus. Hinter den inhaltsleeren Buchtiteln und der unscheinbaren Biographie verbirgt sich eine der eigentümlichsten Autorinnen dieses Jahrhunderts. In England weiß man das schon lange, in Frankreich wurde sie als Vorläuferin des nouveau roman berühmt; Nathalie Sarraute pries sie als »eine der größten Romanautorinnen, die England jemals besessen hat«. In Deutschland jedoch ist Ivy Compton-Burnett immer noch nicht mehr als ein literarisches Gerücht. Ein zu ihren Lebzeiten hier erschienenes Buch hatte keinen Erfolg.
Jetzt, fast 20 Jahre nach ihrem Tod, unternimmt der Klett-Cotta-Verlag den Versuch, sie bekannt zu machen. Im letzten Jahr erschien die Übersetzung eines Romans von 1931, »Männer und Frauen«, und nun liegt ein zweiter vor: »Diener und Bediente« aus dem Jahr 1947 _(Ivy Compton-Burnett: »Männer und ) _(Frauen«. Aus dem Englischen von Walter ) _(Schürenberg. Klett-Cotta-Verlag, ) _(Stuttgart; 304 Seiten; 39, 80 Mark. ) _("Diener und Bediente«. Aus dem ) _(Englischen von Peter Marginter. 332 ) _(Seiten; 44 Mark. ) . Weitere sollen folgen.
Erstaunlich ist an den Romanen von Ivy Compton-Burnett ein ganz einzigartiges Aufeinandertreffen literarischer Extreme. Auf der einen Seite enthalten sie affektüberladene und großangelegte Familiengeschichten, oft bar jeder Wahrscheinlichkeit und mit wilden dramatischen Umschwüngen, auf der anderen Seite sind sie in eine völlig artifizielle Form gepreßt: Die Romane bestehen ausschließlich aus Dialogen (kaum daß die Erzählerin mehr als den Namen der sprechenden Person angibt), in denen die Figuren in einer konventionellen und ausgezirkelten Sprache sich selbst und die Ereignisse bereden.
In die üblichen literarischen Raster paßt diese seltsame Mixtur aus Melodramatik und höchster Stilisierung nicht hinein. Sie ruft einen paradoxen Eindruck hervor, das Gefühl eines erstarrenden Chaos, einer Welt nämlich, die zwar voll ist von lärmenden Impulsen, aus der aber zugleich alles Leben schwindet.
Die Romane von Ivy Compton-Burnett spielen im Milieu ihrer Kindheit, am Ende des 19. Jahrhunderts in reichen spätviktorianischen Familien. Sie bewohnen luxuriöse Landhäuser und liefern sich dort bizarre Auseinandersetzungen. Mord und Selbstmord, Ehebruch und Inzest gehören ebenso zu dieser Welt wie der sonntägliche Kirchgang und der Wohltätigkeitsbazar. Im Mittelpunkt stehen gewöhnlich brutale Familientyrannen, die mit List und Gewalt der Umgebung ihre exzentrischen Lebensvorstellungen aufzuzwingen versuchen.
In »Diener und Bediente« ist Horace Lamb ein solches patriarchalisches Ungetüm, das Familie und Dienerschaft malträtiert, vor allem aber seine fünf Kinder, die im Winter frieren müssen, weil an Kohle und Kleidung gespart wird; natürlich nicht aus Geldnot, sondern aus Prinzipien. »Das Leben eines zivilisierten Menschen besteht in der Unterdrückung _(Stich von J. Howe »Die Falkenjagd«. )
der Instinkte«, so lautet seine Maxime.
Vor dem Essen sollen sich die Kinder die Hände waschen. »Meine Hände sind sauber«, sagt Tamasin. »Das ist anzunehmen«, sagt der Vater. »Sie haben auch nicht viel geleistet.« So kann das Selbstverständliche immer zur Schuld werden. »Warum machst du, daß Dinge, an denen nichts Böses ist, so klingen, als ob sie böse wären?« fragt einer der Söhne den Vater und bringt damit auf den Begriff, worin dessen Macht eigentlich besteht: in einem absoluten Deutungsmonopol, dem sich alle zu unterwerfen haben.
Das ist der Punkt, auf den es bei Ivy Compton-Burnett ankommt: Die Gewalt, die sie darstellt, ist nicht so sehr eine der Taten, sondern eine der Worte. Mit nichts anderem nämlich sind die Romanfiguren beschäftigt als mit Interpretationen und Selbstdeutungen, Entlarvungen, Beteuerungen und Rechtfertigungen: ein verwirrendes System aus ausgefeilten Konversationsmustern, die sich wie ein Netz um die meist bösartigen Intentionen der Figuren legen und sie zusammenhalten.
Der moralisierenden Diktion des Familienoberhaupts entspricht die Rabulistik der Opfer-Kinder. Selten hat es in der Literatur so triste Kinderszenen gegeben wie in diesem Roman; und sie sind nicht deswegen traurig, weil die Kinderqual so sehr ans Herz ginge, sondern weil diese Kinder in vergrämten Moraldiskursen ihre Ansprüche gegeneinander und gegen den Rest der Romanwelt verteidigen und durchsetzen müssen.
Sie reden fernab jeder Kindlichkeit: raffinierte Dialektiker, die wie Winkeladvokaten ihrer selbst argumentieren, um sich im Legitimationslabyrinth der Konversation zurechtzufinden. »Bist du taub?« beschimpft Horace seine älteste Tochter. »Wenn du jemanden taub nennst«, antwortet ein Sohn, »kannst du nicht von ihm erwarten, daß er hört: Dann kannst du ihm auch keinen Vorwurf machen.«
Etwas sanfter, dafür aber um so hinterhältiger wirkt die Gewalt der Konversations-Konventionen in dem früheren Roman »Männer und Frauen«. Hier wird eine Familie vorgeführt, die unter dem tyrannischen Diktat einer kränkelnden Mutter steht. Die versucht eines Tages, sich umzubringen; der Selbstmord mißlingt, dafür verfällt sie dem Wahnsinn und muß längere Zeit in einer Heilanstalt verbringen.
Gesund taucht sie dann wieder auf, um sich aufs neue störend in alles einzumischen. Dem setzt der älteste Sohn ein Ende, indem er seine Mutter vergiftet, ein Mord, der mit Erfolg vertuscht werden kann. Sir Godfrey, der Vater, träumt schon von einer neuen Ehe (mit einer Ehemaligen seines Sohnes), muß aber bei der Eröffnung des Testaments erfahren, daß er durch eine zweite Heirat seine Einkünfte verliert. Über diese unerwartete Rache seiner Frau ist er zunächst schockiert, aber nur für einen Moment. Denn sofort und fast automatisch beginnt er mit Umdeutungsübungen, die die Ereignisse und Gefühle wieder zurechtlegen sollen:
»Für mich ist es zu Ende mit den guten Dingen des Lebens. So ist es nur recht und billig, das gebe ich zu. Vermutlich dachte meine Frau, es sei mein innigster Wunsch, in der Vergangenheit zu leben. Sie wollte ihren Gatten behalten. Und das freut mich. Ich fühle mich erhoben und geschmeichelt. Was in meiner lieben Harriet vorgegangen ist, verstehe ich so gut, als hätte ich es mir selbst erklärt. Ja, ich kann sagen, sie hat es mir erklärt, nur daß ich kein Gedächtnis für solche Dinge habe.« _(Zeichnung von M. Cowper um 1900. )
Diese groteske Liquidation des Unterschieds von Wunsch und Wirklichkeit, die Sir Godfrey hier betreibt, dieses Ausradieren widerständiger Fakten aus der Erinnerung, zeigt eins der Grundmuster, innerhalb derer die Personen dieses Romans sich bewegen: Das Selbst verschwindet im Sog des Konventionellen.
Die Personen sind in ihrem Innersten von Konventionen ergriffen und reproduzieren sie als ureigene Erfindungen. Die künstliche Welt der Konversationen wird in Gang gehalten, weil sich alle mit Gier in die bereitliegenden Formen des Unpersönlichen werfen.
Es gibt keinen Hinweis darauf, was die Personen in Wirklichkeit denken: Alles äußert sich in den Abmessungen des Dialogs, und der läßt keine Auskunft über die innere Wahrheit der Sprecher zu. »Er sprach, als könnte er ihr gegenüber ganz offen sein«, lautet einer der spärlichen Dialogkommentare in »Männer und Frauen«; eine zwiespältige Formel, die die Wahrhaftigkeit zugleich beteuert und zurücknimmt, um so die Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge anzudeuten, die alles Sprechen hier bestimmt. Vetter Mortimer aus »Diener und Bediente« kann das nur bestätigen: »Was wir uns versichern, ist niemals wahr.«
So hat sich der Bereich der Innerlichkeit in Ivy Compton-Burnetts Romanen ganz verflüchtigt: Die Seele der Figuren erscheint wie ein Raum, in dem das Licht ausgeknipst wurde. Da ist nichts unterdrückt oder verdrängt oder in geheimnisvolle Hintergründigkeit gerückt. Selbst das, was man für die Ausfälle eingesperrter Gefühle halten könnte, die Mordimpulse, Sticheleien, Zynismen, mit denen sich die Figuren traktieren, ohne je den höflichen Umgangston zu durchbrechen, selbst das sagt über sie nichts Spezifisches mehr: Es sind heimatlose Impulse.
Wer da nämlich wen umbringt, ist fast egal, weil die Taten nicht als Ergebnisse konturierter Absichten erscheinen. Es gibt keine subjektive Logik, der die Ereignisse entspringen und die sie vorantreiben könnte. Deshalb enden die Romane auch immer so, wie sie begonnen haben.
Zwar bleiben im Laufe der Handlung fast immer ein paar Figuren auf der Strecke, aber damit wandeln sich nur die Gruppierungen. Horace Lamb in »Diener und Bediente« muß zwei Mordversuche überstehen, eine schwere Krankheit und ein paar unvorhersehbare Charakterwandlungen: Eine Entwicklung, aus der heraus allein Neues entstehen könnte, bedeutet das nicht. Mütter, Ehefrauen und Kleinkinder werden ermordet; zuletzt werden die Mörder in den alles überstehenden Familienzusammenhang ohne Groll zurückgeholt: die Welt verharrt in Erstarrung. »Was einmal das Beste war, bleibt immer das Beste, nicht wahr?« fragt eins von Horace Lambs unschuldigen Kindern seinen Vater. »Das gehört sich so«, antwortet der.
Ivy Compton-Burnett: »Männer und Frauen«. Aus dem Englischen vonWalter Schürenberg. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart; 304 Seiten; 39,80 Mark. »Diener und Bediente«. Aus dem Englischen von PeterMarginter. 332 Seiten; 44 Mark.Stich von J. Howe »Die Falkenjagd«.Zeichnung von M. Cowper um 1900.