PSYCHOLOGIE Seelische Buchführung
Die alten Denker haben es schon gewußt, so vor über dreihundert Jahren der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal: »Le coeur a ses raisons que la raison ne connait point.« (Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunft nicht kennt.)
Die Weisheit von Philosophen haben jetzt amerikanische Seelenforscher auf
ihre Weise bestätigt: Der Mensch ist keineswegs so rational, wie er sich dünkt, fanden sie in psychologischen Experimenten. Viele Entscheidungen - ob im Privatleben oder in der Politik - werden vielmehr von unbewußten Faktoren diktiert: Auch der vermeintlich vernünftig handelnde Mensch läßt sich von verborgenen Gefühlen leiten.
Wie und aus welchen Quellen Entscheidungen beeinflußt werden, untersuchte Amos Tversky, Psychologie-Professor an der Stanford University, am Beispiel alltäglicher Situationen. Subtile Kräfte sind am Werk, so berichtete Tversky auf einem Symposium in Washington, wenn Leute eine Wahl zu treffen haben. Und häufig ist, was sie als freien Entschluß ansehen, in Wahrheit das Ergebnis von Manipulation.
Einige der Experimente, mit denen Tversky den Einfluß unbewußter Einstellungen zu zeigen vermochte, stellte der Wissenschaftler den Kongreßteilnehmern vor, beispielsweise:
Jemand beschließt, ins Theater zu gehen, und gibt zehn Dollar für die Eintrittskarte aus. Beim Betreten des Theaters entdeckt er, daß die Karte weg ist. »Würden Sie«, so fragte Tversky seine Versuchsteilnehmer, »noch einmal zehn Dollar für eine neue Karte ausgeben?« Die meisten Befragten erklärten: Nein.
Der Psychologe stellte dann seine Frage in veränderter Form: »Sie entschließen sich, ein Theaterstück anzusehen, der Eintrittspreis beträgt zehn Dollar. An der Theaterkasse stellen Sie fest, daß Sie eine Zehn-Dollar-Note aus Ihrem Portemonnaie verloren haben. Würden Sie trotzdem zehn Dollar für den Eintritt bezahlen?« 88 Prozent der Befragten meinten, sie würden die Karte kaufen.
Die unterschiedliche Reaktion auf gleichartige Umstände liegt nach Meinung von Tversky im System der »seelischen Buchführung« begründet: Jeder Mensch hat bestimmte Kategorien abgespeichert, nach denen er Gewinn und Verlust, Einkünfte und Ausgaben jeweils einordnet - ohne darüber nachzudenken.
Für die meisten Leute, so der Psychologe, ist ein Theaterbesuch eine Transaktion, bei der die Kosten für die Karte gegen das Anschauen des Theaterstücks aufgewogen werden. Durch den Kauf einer zweiten Karte würden die Kosten - in diesem Bezugssystem - zu hoch, der Neukauf einer Karte scheint nicht mehr akzeptabel. Der Verlust des Bargelds hingegen schlägt sich in der »seelischen Buchhaltung« des Theaterbesuchs nicht nieder und wird auch nicht mit dem Kauf der Karte in direkte Verbindung gebracht; er löst lediglich das Gefühl aus, ein bißchen weniger Geld zu besitzen.
Daß die Ratio nicht nur bei diesem simplen Beispiel, sondern auch sonst bei zahllosen Entscheidungen überfahren wird, sahen Tversky und seine Mitarbeiter in weiteren Experimenten bestätigt. Die Stanford-Wissenschaftler fanden: *___Mögliche negative Folgen beeinflussen eine Entscheidung ____stärker als positive Aussichten. Beispielsweise ist die ____Angst, einen bestimmten Betrag zu verlieren, stärker ____als die Hoffnung, die gleiche Summe zu gewinnen. Das ____zeigte sich in Versuchen mit Studenten am Flippergerät. *___Mit sehr unwahrscheinlichen Ereignissen können die ____meisten Menschen nur schlecht fertig werden. Entweder ____ignorieren sie die Möglichkeit gänzlich, oder sie ____überschätzen die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ____grenzenlos. Diese Schwäche könne die Beliebtheit des ____Lottospiels erklären, aber auch die übertriebene Furcht ____vor Haien bei Leuten, die den Film »Der weiße Hai« ____gesehen haben. *___Die meisten Leute sind eher geneigt, ein negatives ____Ergebnis hinzunehmen, wenn es unter »Kosten«, weniger ____bereit dazu, wenn es unter »Verlust« zu verbuchen ist. ____Beispiel: Ein Tennisspieler, der bald nach dem ____Eintreten in seinen Klub einen Tennis-Ellbogen ____entwickelt, macht trotzdem weiter: Wenn er unter ____Schmerzen spielt, kann er seinen Mitgliedsbeitrag ____weiterhin als »Kosten« ansehen. Würde er aufhören, ____müßte er den Beitrag unter »Verlust« abbuchen.
Die Stanford-Psychologen untersuchten noch eine weitere Lebensweisheit: Die Art und Weise, in der Fragestellungen und Lösungsvorschläge dargeboten werden, kann die Entscheidung maßgeblich beeinflussen - sowohl bei Experten als auch bei Laien. Belege dafür lieferte ein Experiment, bei dem Studenten, Ärzte und Wirtschaftsfachleute mit unterschiedlichen Programmen zum Kampf gegen eine Krankheit bekannt gemacht wurden; der Krankheit, so hieß es, fielen jährlich 600 Menschen zum Opfer.
Die Reaktion war unterschiedlich, je nachdem wie die Programme präsentiert wurden. *___Version 1: Der Nutzen wurde begründet mit der Anzahl ____von Menschenleben, die durch das Programm gerettet ____würden. In diesem Fall entschied sich die Mehrheit der ____Befragten für ein Programm, das mit Sicherheit 200 ____Menschenleben retten würde, und verwarfen das Programm, ____das möglicherweise, aber nicht sicher, alle 600 retten ____würde. *___Version 2: Das zu erwartende Ergebnis wurde in ____Verlusten an Menschenleben ausgedrückt. In diesem Fall ____entschieden sich die meisten für das Programm, das ____möglicherweise alle, vielleicht aber auch niemanden ____retten würde, und verwarfen jenes, bei dem man mit 400 ____Toten rechnen mußte.
Die Ursache dieser Widersprüche liegen in einer offenbar tiefverwurzelten Neigung, Risiken zu vermeiden, wenn Gewinn gemacht werden soll. Wer hingegen Verluste vermeiden wolle, glauben die Psychologen, nehme Risiken in Kauf. Ärzte könnten auf diese Weise die Entscheidungen ihrer Patienten beeinflussen, konstatiert Psychologe Tversky - aber natürlich gebe es, allein durch die Formulierung, auch die Möglichkeit der Manipulation bei politischen Entschlüssen.
Um sich vor derartiger Beeinflussung zu schützen, rät Tversky, sollte jeder seine Probleme und Entscheidungs-Alternativen jeweils in unterschiedlicher Form darstellen. Dann werde ersichtlich, ob die getroffene Wahl standhalte.
Kennerschaft allein, so das Fazit der Forscher, schütze jedenfalls noch nicht vor bewußter oder unbewußter Manipulation: »Wenn Laien schon einer simplen Täuschung erliegen«, meint der Psychologe, »fallen Experten spätestens auf die etwas raffiniertere Version herein.«