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MUSIK / LIGETI Sehr gehässig

aus DER SPIEGEL 45/1967

Der Organist zog ein paar Registerknöpfe, griff mit allen Fingern in die Tasten und ließ einen an die Orgel angeschlossenen Staubsauger einschalten. In der lutherischen Pfarrkirche zu Hamburg-Wellingsbüttel wurde ein schwaches Wimmern uraufgeführt.

Mit Hilfe des Raumpflege-Geräts, das einen weit schwächeren Winddruck erzeugt als normale Blasebälge und damit eine nur unvollkommene Tonbildung der Orgelpfeifen zuläßt, vermochte der Kantor jene »fahlen überirdischen Klangfarben« zu erzeugen, die der Komponist György Ligeti, 44, für seine Orgel-Etüde Nr. 1« vorschreibt.

Mit derlei Klangschleifen, Halb-Tönen und Klage-Lauten hat der Exil-Ungar Entdecker-Ruhm gewonnen. Seine Erfindung, die Klangflächenkomposition, wird heute in allen Zentren der Neuen Musik zwischen Stockholm und Venedig, Prag und Paris bestaunt. Sie trug ihm sogar kürzlich die Mitgliedschaft der Königlich Schwedischen Akademie der Musik und -- nach seiner Stockholmer »Requiem«-Aufführung -- den begehrten Bonner Beethovenpreis (5000 Mark) ein.

Die »Welt« bescheinigte dem Ton-Pionier das »Verdienst, das Klanglich-Farbliche über den traditionellen Rang einer Zutat erhoben« zu haben. Und die »Stuttgarter Zeitung« lobte den »Versuch, die Gestaltungsprinzipien der monochromen Malerei für die Musik nutzbar zu machen«.

Es ist das Prinzip raffinierter Nuancen in scheinbar monotonen Klangströmen. Ligetis »Etüde« beispielsweise besteht hauptsächlich aus sogenannten Tontrauben ("Clusters") von lang anhaltenden Zehnfingerakkorden« deren Staubsauger-Sound fast unmerklich verändert wird: Der Organist wechselt allmählich mit jeweils einem Finger die Taste oder weist einen Assistenten an. langsam ein neues Register zu ziehen.

Andere Ligeti-Klänge: Sänger intonieren durch Papprollen« Fagottisten blasen in verstopfte Instrumente, Schlagzeuger zerreißen Seidenpapier. Ferner läßt der Klangfarbenmaler Wasser ausgießen und leere Flaschen zerschlagen -- seit 1950 etwa ist er entschlossen, »so zu tun, als kenne ich keine Musik mehr«.

Zuvor hatte Ligeti die musikalische Tradition sehr wohl gekannt und wechselnde Vorbilder imitiert. Der Fünfzehnjährige, 1923 in der Siebenbürger Kleinstadt Dicsöeszentmàrtnn geboren, begeisterte sich am Klavier für Verdi« Wagner und Mussorgski. Seine ersten Kompositionen schrieb er jedoch im Stil von Grieg.

Nach einer Richard-Strauss-Periode entdeckte der mittlerweile an der Budapester Musikhochschule immatrikulierte Ligeti die damals modernen Komponisten Hindemith, Strawinski und Bartók. Der Komponist: »Wir haben einen Bartók. und das ist viel.«

Nachdem 1948 in Ungarn selbst die milden Bartók-Dissonanzen nicht mehr mit dem sozialistischen Realismus zu vereinbaren waren, schrieb der zum Professor für Harmonielehre und Kontrapunkt beförderte Komponist klangvolle Volksliederbearbeitungen zur Veröffentlichung und experimentelle Stücke für die Schublade. Als Ligeti 1956 während des Ungarn-Aufstandes in den Westen floh, ließ er 80 nicht aufgeführte Werke nebst Familie in Budapest zurück.

Der Fluchtweg führte den heimlichen Avantgardisten, der eifrig die Neutöner-Sendungen westlicher Rundfunkstationen abgehört hatte, direkt ins deutsche Elektronen-Musikzentrum -- nach Köln. In der Wohnung des Kollegen Karlheinz Stockhausen ("Gesang der Jünglinge im Feuerofen") schlief der ermattete Ligeti zunächst 24 Stunden, diskutierte dann über die Partituren, die er auf dem Schreibtisch seines Gastgebers fand, und schlummerte abermals 24 Stunden.

Danach begann er sofort, die Prinzipien der aleatorischen, seriellen und elektronischen Musik zu studieren. Doch weder die mathematisch exakt kalkulierte Serientechnik noch die Aleatorik, die dem Interpreten ein Höchstmaß an Freiheit einräumt, noch die von Basteitrieb und Probierlust beflügelten elektronischen Experimente schienen ihm nachahmenswert. Er zog es vor, das weiterzuentwickeln, was er in Budapest begonnen hatte.

Ligeti siedelte nach Wien um, in einen »elfenbeinernen Turm«, in den er nur die komponierende Dirigenten-Tochter Tona Scherchen hebend gerne einließ. Freunde, die mit dem scheuen, jedem Engagement abgeneigten Künstler ("Ich will für nichts kämpfen, ich bin fürs Anti-Heroische, fürs Anti-Wichtigtuerische") telephonieren wollen, müssen das Gespräch zuvor telegraphisch ankündigen -- nur dann nimmt Ligeti den Hörer ab.

Aus dieser Abgeschiedenheit trat Ligeti 1959 heraus, um eine Novität publik zu machen -- seine erste Klangflächenkomposition.

Es war ein bereits in Budapest skizziertes Neun-Minuten-Stück, dem Ligeti den Namen »Apparitions« (Erscheinungen) gab -- »weil es französisch einfach schöner klingt«. Aus vielen langgezogenen Tönen, die sukzessiv einsetzen und sich chromatisch verschieben, verwirklichte der Komponist seine »Vorstellungen von weitverzweigten, mit Klängen und zarten Geräuschen ausgefüllten musikalischen Labyrinthen«.

Seine Vorstellung von einem neuen Musiktheater vermittelte Ligeti« der nichts von der hergebrachten Oper ("museal") hält, allenfalls Strawinskis »The Rake"s Progress« gelten läßt, letztes .Jahr im Stuttgarter Staatstheater. Zu seiner fertigen Komposition »Aventures & Nouvelles Aventures« schrieb er pantomimische Anweisungen; zum Quasi-Libretto aus bloßen Lauten, phonetischen Gebilden ohne semantischen oder logischen Sinn erfand er eine imaginäre Bühnenhandlung:

Er ließ drei Sänger-Darsteller jeweils fünf Rollen spielen, simultan, solistisch oder im Ensemble flüstern, schreien, hauchen, lachen, jubeln oder orgiastisch stöhnen. Laut Partituranweisung hatten sie sich so zu äußern: »wehmütig schluchzend/mit ersteinertem Gesichtsausdruck / uhrwerkartigsteif, teilnahmslos/resigniert/preziösnasalierend, wichtigtuend knautschend/murmeln/vor sich hin, kontaktlos/plappernd/spöttisch -- gallbittere Bemerkung/mit verstopfter Nase. sehr gehässig«.

Die »Süddeutsche Zeitung« sah in dieser Parodie auf die Oberflächlichkeit der neubürgerlichen Welt »einen Affekt-Kommentar zu einer Oper, die nicht stattfindet«.

Die schillernden Klangfarben der »Aventures« und die breiten Tonströme des großen Orchesterwerkes »Atmusphères« jedenfalls bildeten eine Art Ouvertüre für eine neue Musik-Mode: Letzte Woche im großen Orchesterkonzert der »Donaueschinger Musiktage für zeitgenössische Tonkunst« waren ausnahmslos Klangfarbenwerke zu hören.

Nur Ligeti war wieder ein Stück weiter: Seinem jüngsten Opas »Lontano« hatte er Melodiefragmente beigegeben: Zu den im Vierfachpianissimo (pppp) gehauchten Orchesterclusters ließ er halbverschwommene Motiv-Floskeln kontrastieren.

»Hinter dieser Musik«, so deutete Ligeti, »gibt es noch eine Musik.«

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