PROUST-BRIEFE Sehr geliebte Mama
»So habe ich«, schrieb der Dichter an seine Mutter, »gestern und heute abend beim Ankleiden die zweite Unterhose weggelassen und heute nacht und heute vormittag habe ich, was mir noch schwerer fiel, im Bett die zweite Strickjacke aus Pyrenäenwolle nicht angezogen. Da ich am Vormittag fror, weiß ich nicht, ob ich das heute abend wieder wagen kann ...«
Mit derlei detaillierten Schilderungen seiner Krankengeschichte wird in diesem Herbst der französische Schriftsteller Marcel Proust (1871 bis 1922) - nach internationalem Renommee einer der bedeutendsten des Jahrhunderts, Autor des mehrbändigen Romanwerks »A la Recherche du Temps perdu« ("Auf der Suche nach der verlorenen Zeit") - zum erstenmal deutschen Lesern auch als Briefschreiber präsentiert.
Der Herausgeber des jetzt in Deutschland erschienenen Proust-Briefbandes, Suhrkamp-Cheflektor Walter Boehlich, führt den Briefautor Proust auf ungewöhnliche Weise ein - durch Abwertung: »Was wir als seine Korrespondenz kennen«, schreibt Boehlich, sei, gemessen an Prousts Werk, »in der Regel beiläufig, wo nicht wertlos, oft sogar abstoßend«.
Abstoßend mag in der Tat erscheinen, was die Briefe von Prousts liebevoller Beschäftigung mit seinen eigenen Hysteriker-Krankheiten, Asthma und Heufieber, lesen lassen; abstoßend mag der verzogen-maulende Tonfall anmuten, den der nie ganz erwachsene, nie ganz selbständige Proust seiner Mutter gegenüber anschlägt: »Aber da ich schon mein Räucherpulver** selbst bezahlen muß (was alle Welt phantastisch findet, ich selbst jedoch ganz natürlich), sollte ich vielleicht auch noch meine Miete bezahlen.«
Und abstoßend mögen auch die devoten Schmeicheleien wirken, mit denen Proust besonders in jüngeren Jahren seine Briefe an Personen des Pariser Hochadels schmückte. Proust an Robert de Montesquiou, einen Schriftsteller und renommierten Snob, der ihm später für die Figur des Baron de Charlus in der »Recherche« Modell stand: »Ihr herrlicher Brief, der so reich ist an feinster Ornamentik wie der weitläufigste Garten im französischen Stil, aus dem so viele Düfte, so viele Blüten aufstiegen ...«
Dennoch hielt der Suhrkamp-Verlag diese Briefe für wert, sie seiner siebenbändigen Ausgabe der »Recherche« in einem Band gleicher Aufmachung anzugliedern. Einem Wunsch des 1959 verstorbenen Verlagsgründers Peter Suhrkamp folgend, hat Herausgeber Boehlich sechs Jahre darauf verwandt, den extrem umfangreichen Briefwechsel Prousts, soweit er bisher in Frankreich publiziert wurde, zu sichten und zu sortieren. Boehlich hatte insgesamt 26 Bände mit Proust-Episteln zu studieren, die aber auch noch nicht das gesamte Korrespondenz-Material enthalten - viele unveröffentlichte Schreiben liegen noch bei Verwandten und Freunden des Autors.
Ursache dieser ungeheuren Briefproduktion, die nur mit dem Korrespondenz-Ausstoß des deutschen Dichters Rainer Maria Rilke zu vergleichen ist, war Prousts langes Leiden, das ihn etwa von 1905 bis zu seinem Tode 1922 ans Bett fesselte. Briefe waren sein fast einziger Kontakt zur Umwelt.
Um das Leserinteresse nicht zu stark auf biographische Details zu konzentrieren, stellte Boehlich für seinen Auswahlband hauptsächlich Briefe »zum Werk« zusammen. Dennoch ist der Band aufschlußreicher für Prousts Person und Biographie als etwa für seine ästhetisch-literarischen Theorien. Was die Briefe an künstlerischen Selbstdeutungen enthalten, ist wenig und nimmt sich auch mehr als Wiederholung oder Vorwegnahme dessen aus, was Proust ohnehin in sein Romanwerk eingebaut hat. Indes geben die Briefe Auskunft über die extravaganten Umstände, unter denen eines der Hauptbücher der Literatur-Moderne entstand.
Marcel Proust, Musterschüler und verzärtelter Sohn aus großbürgerlichem Hause - der Vater Adrien war Chef einer Klinik, die Mutter Jeanne entstammte einer reichen jüdischen Börsenmaklerfamilie -, führte in Paris das Leben eines müßiggängerischen Snobs und schmeichelte sich in die Gesellschaft des Pariser Hochadels ein. Gelegentliche literarische Tätigkeiten - er veröffentlichte einen erfolglosen Roman in Luxusausgabe und schrieb zuweilen Aristokraten-Porträts für den »Figaro« - erschienen mehr als Variante seines sozialen Geltungsdrangs.
Der Salonlöwe Proust hatte keine sonderliche Neigung zur Arbeit und verschanzte sich gegen die unablässigen Mahnungen seiner sehr geliebten Mama: »Ich bin schließlich überzeugt, daß es Leute gibt, die ebensosehr leiden, ja noch mehr, und die trotzdem arbeiten. Aber man hört auch von anderen, sie hätten diese oder jene Krankheit durchgemacht, und man habe sie gezwungen, jede Arbeit aufzugeben. Zu spät; ich habe es lieber zu früh tun wollen.«
Hinter diesem Müßiggang mit Snobappeal und hypochondrischer Selbstbeschau verbarg sich allerdings eine Tragödie, die Proust zeit seines Lebens, zu verheimlichen gesucht hat: die Tragödie seiner homosexuellen Veranlagung.
Prousts leidenschaftliches Werben um die Anerkennung durch Hochgestellte, um die Freundschaft von gleichgesinnten Künstlern, seine nahezu hysterische Anhänglichkeit an die Mutter waren Anzeichen einer Kontaktsuche, die seiner Unfähigkeit, Liebespartner zu finden, und seiner manischen Furcht vor den realen Anforderungen des Lebens entsprang. Deshalb blieb er immer »Kind« seiner Mutter, »immer vier Jahre alt« Sie weiß«, schrieb er an Robert de Montesquiou; »daß ich ohne sie unfähig bin zu leben, so in jeder Weise hilflos vor dem Dasein.«
Erst als die Eltern starben, schloß der zunehmend kränkelnde Proust sich, aller Nestwärme beraubt, mehr und mehr von der Umwelt ab, suchte menschlichen Kontakt nur noch durch Briefe und begab sich auf die »Suche nach der verlorenen Zeit«. Er wollte den Wunsch seiner Mutter, er möge »etwas Ordentliches tun«, wenigstens nach ihrem Tode erfüllen. Ein Brief an die Comtesse de Noailles verrät, in welchem Maße seine Mutter-Bindung auch seine Schriftstellerei antrieb. Einer geplanten Arbeit über den Kritiker Sainte-Beuve, so schrieb Proust an die befreundete Comtesse, wolle er folgenden Rahmen geben: »Mama kommt zu mir ans Bett, ich sage ihr, ich hätte die Idee, eine Studie über Sainte-Beuve zu schreiben, ich lege sie ihr dar und entwickle sie ihr.«
Mit dreiundzwanzig Jahren hatte ihn einmal, während eines Asthma-Anfalls, die Furcht befallen, er könne sterben, »ohne etwas geschrieben zu haben«. Es klang triumphierend, als er Ende des Jahres 1909 der Comtesse de Noailles brieflich kundtat: »Ich habe zu arbeiten begonnen.«
Fortan lebte Proust in einem verdunkelten Zimmer, dessen Wände mit Korkplatten gegen die Geräusche der Außenwelt abgedichtet waren, nur seiner Krankheit und seinem Buch. »Ich werde«, schrieb er an Geneviève Straus, die Witwe des »Carmen«-Komponisten Georges Bizet, »immer mehr der Krankheit verfallen, immer mehr werden jene, die ich verloren habe, mir fehlen, immer unerreichbarer wird, was ich je mir vom Leben habe erträumen können, für mich werden.«
In selbstgewählter Dunkel- und Einzelhaft memorierte und beschrieb der Schriftsteller das verlorene Paradies seiner Kindheit, die zerfallende Gesellschaft der Jahrhundertwende und »Sodom und Gomorra«, die Welt der Inversion.
Die Figuren der Gesellschaft, die er einst verehrt hatte, wurden mit Fortschreiten der Erzählung zu kalt analysierten Studienobjekten, bis schließlich, im letzten Band der »Recherche«, alle Gestalten noch einmal in einem gespenstischen Reigen auftreten, von Leere und Verfall gezeichnet - ein Anblick, der den Erzähler zu dem Entschluß führt, seinen Lebenssinn nicht mehr in der Gesellschaft, sondern in der Literatur zu suchen. Proust zeichnete damit seinen eigenen Weg zur Literatur nach und stellte die Vorgeschichte, das Entstehen des Romans im Roman selbst dar - und wurde damit zu einem Bahnbrecher der modernen experimentierenden Prosa-Epik.
Die andere Geschichte des Werkes, die dort beginnt, wo der Roman selbst aufhört, ist aus den Briefen abzulesen. Sie verzeichnen die Arbeitsphasen mit den jeweils gleichzeitigen Krankheitsepisoden, sie halten fest, wie Proust für Einzelheiten seines monumentalen Erinnerungswerkes Ratschläge von Freunden einholt, wie er sich über politische Ereignisse und sogar über modische Details der »verlorenen Zeit« Auskunft geben läßt: »Da Sie noch als Kind die Prinzessin Mathilde gekannt haben«, schreibt er an einen Bekannten, »könnten Sie mir vielleicht eine ihrer Roben beschreiben, ein Nachmittagskleid für den Frühling, fast Krinoline, wie sie es trug, mauvefarben, dazu vielleicht einen Hut mit Bindebändern und Veilchen, kurz, so wie Sie sie wohl gesehen haben.«
Später berichten die Briefe vom verzweifelten Widerstand des Dichters gegen allzu eindeutige Ausdeutungen seines Werkes - Proust an eine Bekannte: »Odette de Crécy (eine seiner Romanfiguren) ist nicht nur nicht Sie, sondern genau das Gegenteil von Ihnen« - sowie vom qualvollen Kampf um die endgültige Edition der »Recherche«, den Proust unter Schmerzen und Atemnot vom Bett aus führen mußte, arbeitsfähig nur durch Koffeintabletten, getrieben von Todesangst und von Furcht, die Veröffentlichung des Werkes nicht mehr zu erleben oder den »endlosen Wälzer« (Proust) überhaupt nicht vollenden zu können.
Als sich nach Erscheinen der ersten Bände unerwarteter Erfolg einstellte - für den zweiten Band erhielt Proust 1919 den Prix Goncourt -, lebte der Moribunde für kurze Zeit noch einmal auf. Er ging wieder aus, meistens nachts, und dinierte im Hotel Ritz, wo er totenbleich, mit fiebrigen Augen erschien, in einem hocheleganten, aber derangierten Abendanzug, aus dessen Jackett wärmende Wattebäusche hervorsahen - ein charmantes Gespenst, ein »Jüngling von fünfzig Jahren« (so die Schriftstellerin Colette), »der, obwohl er mit Mühe sprach, mit Reden und Scherzen kein Ende fand«.
Bald aber brach auch die letzte Verbindung zur Außenwelt ab. Proust im September 1922 an seinen Verleger Gaston Gallimard: »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen geschrieben habe, seit ich wieder bei jedem Schritt, den ich tue, hinstürze und die Wörter nicht mehr richtig aussprechen kann. Es ist grauenvoll.«
Proust starb am 18. November 1922. Die letzten drei Bände seines Riesenromans wurden nicht mehr von ihm korrigiert.
Obwohl der Briefherausgeber Walter Boehlich, ganz im Sinne Prousts, einer »auf die Person des Schriftstellers gerichteten Neugier« nur »sekundären Wert« zuerkennt, verheißt der Suhrkamp-Verlag im Klappentext des »Briefe zum Werk«-Bandes: »Es ist ein zweiter Band vorgesehen, der in einigen Jahren erscheinen und Briefe zum Leben enthalten soll.«
* Marcel Proust: »Briefe zum Werk«. Suhrkamp Verlag, Frankfurt; 528 Seiten; 28 Mark.
** Mittel gegen das Asthma.
Mutter Jeanne Proust
So viele Düfte
Schriftsteller Proust
So viele Blüten