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FERNSEHEN Sein Name war Derrick

Ende einer Krimi-Ära: Ganovenjäger Derrick tritt ab - und darüber, wer er nun war, der Beste aller Deutschen oder nur ein öder Durchschnittsmensch, streiten die Kritiker immer noch. Von Susanne Beyer
aus DER SPIEGEL 50/1997

Es hat geschneit im Münchner Prominenten-Vorort Grünwald. Eine weiße Schneedecke liegt verdächtig friedlich über all den vertrauten Villen und Luxuslimousinen - so bot sie sich vorige Woche dar, die einzig akzeptable Kulisse für ein Filmvorhaben, das die Welt wohl nie richtig akzeptieren wird: Die letzte reguläre Derrick-Folge wird hier, wo auch das Bavaria-Filmstudio steht, in diesen Tagen gedreht.

Das Unfaßbare - es ist wahr. ZDF-Redakteur Claus Legal bestätigt das Gerücht, das viele nur für eine gemeine Finte der bunten Blätter hielten: Die erfolgreichste Krimiserie aller Zeiten wird eingestellt, und zwar ausgerechnet auf Wunsch des Hauptdarstellers Horst Tappert, 74. Ob Derricks Assistent Harry allein weitermachen darf, ist unklar. Im nächsten Sommer wird noch eine Super-Sonder-90-Minuten-Sendung gedreht; es heißt, Tappert wünsche sich, dann noch einmal Abschied zu nehmen von allen Sascha Hehns, Klausjürgen Wussows und anderen Mörder-Darstellern, die er im Laufe seiner Amtszeit eingebuchtet hat. Doch diese Sendung bleibt die Ausnahme - und nicht durch Ausnahmen ist Horst Tappert zum bekanntesten Deutschen geworden, sondern weil er die Verkörperung des Regelfalls war.

Jetzt, wo alles anders wird, stimmen auch seriöse Blätter in den Klagegesang ein. »Nicht nur unser Freitagabend, sondern unser Ruf steht auf dem Spiel. Weltweit«, klagt der Berliner »Tagesspiegel«. Und die »Zeit« blickt mitleidsvoll auf Derrick-verrückte Nachbarländer: »Holland in Not«.

So war es 23 Jahre lang: Mal höhnisch, mal respektvoll und immer ein bißchen fassungslos kommentierten Publikum und Kritiker, Freunde und Feinde der Serie ein Phänomen, das unerklärlich schien. In der Tat ist es ein Rätsel: Ein in Biederkeit erstarrter Oberinspektor, eher häßlich als ansehnlich, löst in eher langatmiger als atemraubender Weise einen eher durchschaubaren als kniffligen Fall.

Fast ein Vierteljahrhundert tauchten immer dieselben Charaktere auf: das naseweise Muttersöhnchen, die devote Haushälterin, die neugierige Zimmerwirtin, die verbitterte grüne Witwe, der geldgeile Unternehmer, der sonderbare Aussteiger, die hörige Geliebte, die höhere Tochter. Und Du-Stephan. Und Ja-Harry. Die Welt sah nichts lieber als sie alle.

Immer wieder, als handle es sich um eine kultische Beschwörungsformel, verweisen die Produzenten auf die Zahl der Länder, in denen Derrick über den Bildschirm tapperte. Sagenhafte 102, von der Mongolei über die Walachei nach Schanghai, wo der Polizeipräsident Derrick-Videos zur Fortbildung seiner Mitarbeiter empfiehlt. Von Australien über Indonesien nach Italien - dort hat sich ein hoffnungslos in Derrick verliebter weiblicher Fan unlängst das Leben genommen.

Frankreich trumpfte in diesem Jahr mit einem Wiederholungsrekord auf, insgesamt 13 Derrick-Filme liefen in einer Woche auf verschiedenen Sendern; die Einschaltquoten lagen zwischen 22 und 30 Prozent. Und ein niederländischer Fanclub kann nicht akzeptieren, daß er nur einer von vielen ist. Die Vorsitzenden brüsten sich damit, daß sie bei ihren Zusammentreffen auswendig gelernte Stephan-Harry-Dialoge deklamieren. Derrick global - einer für alle, alle für einen.

Nur über die Antwort auf die eine Frage, die sich jeder noch so enthusiastische Fan irgendwann einmal gestellt haben muß, herrscht Uneinigkeit: Was, verflixt noch mal, ist dran am tristen Tränensackträger? »Derrick verkörpert das Bild des guten Deutschen in der Welt, deswegen liebt man ihn«, säuselt Horst Tappert rituell, wenn ihm die eine Frage zum tausendsten Mal gestellt wird. Lug und Trug, behauptet Schriftsteller Maxim Biller. In einer Kolumne argwöhnte er, Autor Herbert Reinecker, 82, ein Mann mit Nazi-Vergangenheit, habe seinen Derrick klammheimlich in ein »modernes TV-,Mein Kampf''« verwandelt, mit wabernden Weltrettungsideen und geschickt getarnten Wünschen nach großen, deutschen Lösungen.

Das ist sicher übertrieben, aber auch andere Kritiker bemerkten in den vergangenen Derrick-Jahren eine bedenkliche Larmoyanz. Besonders beliebtes Jammer-Thema: die hoffnungslose Jugend der Welt, der Leitfiguren fehlten und die dringend Ziele, Visionen, Ideale brauche. Tatsächlich wird kolportiert, Tappert schmeiße hin, weil ihm Reineckers Drehbücher zu unheilschwanger, zu pathetisch wurden. Und tatsächlich zeichnet sich Reineckers Frühwerk durch peinliche Propagandatexte aus - »Panzermänner erzählen vom Feldzug in Polen« (1939) ist nur einer von vielen.

Alles kalter Kaffee, behaupten indes die Derrick-Macher. Sie verweisen darauf, daß die Serie gerade in den Ländern immer beliebter wurde, die unter dem Expansionswahn der Nazis zu leiden hatten - womit sich wieder jene Sackgasse auftut, an deren Ende der treue Fernsehbeamte als der Beste aller Deutschen triumphiert.

Rätsel Derrick. Da kann nur noch die Wissenschaft helfen. Semiotiker Umberto Eco beruft sich auf eine Studie und offeriert seine ultimative Erfolgsanalyse in einem Artikel der »Süddeutschen Zeitung": Der wackere Oberinspektor sei die Verkörperung des Durchschnittsmenschen, der alles und jeden ernst nehme, so daß jeder und alle sich mit ihm identifizieren könnten.

Das, widersprechen Eco-Kritiker, sei eine reichlich schlappe Erklärung, die man auf jedes Fernsehprodukt anwenden könne. Der Erfolg Derricks lasse sich gerade aus der Abwesenheit typischer Fernsehzutaten erklären. Kein Sex, kaum Action - auf diese Weise habe sich die deutsche Serie Zugang zu den moralisch ängstlichen, staatlich beaufsichtigten Sendern der Welt erschlichen.

Daß Welt-Derrick nicht nur von staatlichen Sendern ausgestrahlt wird, entwertet auch diese These. Was bleibt? Konfusion. Durchschnitt oder Anti-Durchschnitt? Guter oder böser Deutscher?

Also, noch einmal alles auf Anfang. Es gibt ein Grundgefüge: Stephan und Harry. Harry und Stephan. Alle Lobreden, alle Verrisse, alle Versuche, das Derrick-Phänomen zu packen, verhandeln ein Thema, zwar oft nur am Rande, aber immer ist es da. Das Thema heißt Harry, armer Harry.

Manchmal äußert sich leiser Unmut über die Entrechtung des ewigen Assistenten, manchmal schenkelklopfendes Gegeifer. Das alte Lied vom heimlichen Schwulenpärchen ist besonders beliebt oder das von den Chinesen, die allen Ernstes glauben, jeder Deutsche habe seinen Harry, der Lästiges für ihn erledigt und nie aufmuckt. Aber Harry wird zu Unrecht als lächerliche Nebenfigur abgestempelt. Mit ihm ist die chronische Knechtschaft zum Kult erhoben, zum heimlichen Leitmotiv der Sendung geworden.

Denn Derrick war nur scheinbar der Herr. In Wahrheit blieb auch er Knecht - lebenslänglich festgekettet an das Verbrechen. Schien das Böse in einer Folge gebannt, kroch es in der nächsten wieder frech empor. Zwar durfte Derrick in den knapp 300 Folgen - bis auf drei Ausnahmen - stets den Mörder überführen, doch dieser Sieg erfüllte ihn selten mit Genugtuung. In den letzten Krimi-Sekunden konnte der Zuschauer immer so etwas wie Resignation aus Derricks verschleiertem Basedow-Blick herauslesen.

Das lag auch daran, so suggerierten zumindest die Macher der Serie, daß der Oberinspektor das Böse immer begreifen, am liebsten noch das Gute darin finden wollte. Er interessierte sich nicht für den Mord als Faktum, sondern für die Motive eines jeden Mörders - das ließ ihn bei der Verhaftung mitleiden. Und der Zuschauer litt mit ihm. Denn wer sagt eigentlich, daß das Krimi-Publikum nur scharf darauf ist, daß der Mörder so schnell wie möglich im Bau landet? Ein bißchen Mitgefühl für den Bösewicht muß schon sein, selbst wenn durch den Verhaftungsakt diffuse Wünsche nach Recht und Gerechtigkeit befriedigt werden.

Zwei Herzen schlagen also in der Brust des passionierten Krimi-Sehers. Das eine will die Motive des Mörders verstehen, will dann sogar, daß er entkommt, das andere fordert rasche Sühne für die schlimme Tat. Und Derrick, ausgerechnet TV-Zombie Derrick, bediente zuverlässig beide Wünsche auf einmal: überführte und litt mit dem Überführten. Trauer im Triumph. Ein geknechteter Herr. Folge für Folge.

Diese Wiederkehr des ewig Gleichen scheint das Krimi-Publikum besonders zu schätzen. Nichts anderes belegt die umjubelte Rückkehr Schimanskis auf die deutschen Bildschirme - inklusive Schimi-Jacke, Schimi-Schnurrbart und Schimis »Scheiße«-Ausruf. Daß Schimanskis Partner Thanner nicht mit ihm zurückkehren konnte - der Schauspieler war inzwischen gestorben -, wurde dem Zuschauer in der ersten neuen Folge so schonend wie möglich beigebracht. Schimanski mußte an Thanners Grab ein paar Tränen verdrücken und durfte sich erst langsam, ganz langsam mit seinem neuen Assistenten anfreunden.

Derlei Einschnitte mußte Derrick seinen Zuschauern nie zumuten. Und so wurde die zuverlässigste aller Serien, die aus dem Mittelalter der Fernsehzeit stammt, im Laufe der Jahre zu einer Art Ur-Ort, so langweilig und so vertraut wie Großmutters Wohnzimmer, das man aufsucht, nicht um etwas zu erleben, sondern um sich zu Hause zu fühlen.

Wenn nun geschehen soll, was geschehen muß, wenn Derrick tatsächlich geht, ist der lahme Wunsch des Hauptdarstellers, einfach per Drehbuch in Pension geschickt zu werden, fatal. Das begreift kein Mensch. Treue, zu allem entschlossene Zuschauer werden Tappert aufspüren und zum Vollzug seiner Pflichten zwingen. Nein, in der letzten Folge muß das Grundgefüge ein für allemal gesprengt werden. Am besten durch eine Art von rituellem Vatermord. Und dafür kommt nur einer in Frage. Harry, hol schon mal die Knarre.

* »Waldweg«, mit Herbert Bötticher (M.).* »Wer erschoß Asmy?«, 1985, mit David Bennent.

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