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SELTEN SAH MAN KLEINERE ZWERGE

aus DER SPIEGEL 20/1966

Man flüsterte, es werde ein großes Theater-Ereignis. Berlin, immer geneigt, hochzuspielen, was in Berlin gespielt wird, trieb Vorpropaganda von Mund zu Mund. Am Freitag vergangener Woche wurde es Ereignis: Premiere von »Faust II« - aber kein großes.

Goethe hat sechzig Jahre lang an seinem »Faust« geschrieben. Ernst Schröder hat mit dem Ensemble des Berliner Schiller-Theaters fast vier Monate die Aufführung des »Faust II« vorbereitet. In beiden Fällen handelt es sich um Rekordzeiten, die in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Kein anderes Theater deutscher Zunge, will man glauben, wäre überhaupt mit dem Koloß so bravourös fertig geworden.

Goethe konnte, und vor allem: Er wollte sich nicht entscheiden, was »Faust« nun eigentlich werden sollte. Ist »Faust I« mit der Gretchen-Geschichte noch allenfalls wirklich, was das Stück zu sein behauptet: eine Tragödie, so »Faust II« mit der Helena-Affaire allenfalls der Stimmung nach, sonst aber ein Mysterienspiel, Kultur-Digest, vielleicht auch nur ein Jux, den sich Goethe mit dem Abendland machen wollte, und auf jeden Fall eines der längsten und wortgewaltigsten Gedichte der Weltliteratur.

Noch weniger als Goethe konnte sich Ernst Schröder entscheiden, was er eigentlich machen wollte, und während des Dichters Unentschiedenheit Fülle beschert und Größe, zerstört der Regisseur durch Konzeptlosigkeit auf weiten Strecken, was ihm auf weiteren Strecken trefflich gelungen ist.

Man freut sich nach vier Stunden über alles, was er und sein dramaturgischer Hausgeist Hans Mayer, Professor der Literatur, entschlossen strichen. Man freut sich, wenn der Vorhang sozusagen schon zu spät aufgeht, »anmutige, kleine Gestalten« uns erspart bleiben und man des Bildhauers Heiliger Realisation des Goethe-Kosmos zum erstenmal sieht. Er hält bis zum Schluß, was er sofort verspricht. Nicht minder großartig, wie der Maler Camaro die hundert Menschen anzog und maskierte, die auf dem Theaterzettel stehen, und die nicht gezählten, die pauschal vermerkt sind: »Hofgesellschaft, Pagen, wildes Heer, Zwerge«.

Insbesondere die letzteren durften sich des Beifalls sicher sein. Selten sah man kleinere Zwerge. Man bekommt eine Parodie des Habsburgischen Hofes vorgesetzt, über die sich Auge und Ohren amüsieren, und wenn sich Heiligers Gebirge, Höhlen, Schluchten, Abgründe und Gipfel zu drehen beginnen, möchte man ah! rufen, so schön ist das, so kraftvoll, so »klassisch« und zugleich so neu. Homunkulus in seiner schwebenden Klarsichtpackung wird auch so bald niemand vergessen ...

Aber ach, in der klassischen Walpurgisnacht schwinden Tempo und Witz dahin, zerfällt, was ein Ganzes sein müßte, in viel zu lang ausgespielte Einzelszenen, bricht Bildung auf der Bühne aus, die bis dahin ein blitzblank geputztes Stück vermied, das den Ironiker Goethe zum Zuge kommen ließ.

Man fürchtet, wie das weitergehen

wird, und man fürchtet mit Recht. Denn wenn nun Helena erscheint, von der Faust nur sagen könnte: Das weißeste und langweiligste Weiß meines Lebens, dann will man sich wieder der Jahrhundertmeinung anschließen, daß »Faust II« eigentlich unspielbar sei. Herrscher in diesem lyrischen Imperium des dritten Aktes ist Helena, nicht Faust, und warum diese Dame ein schöner Schemen bleiben muß, bleibt Schröders Geheimnis und die elementare Schwäche dieser Aufführung, nicht die des Dichters. Man meint, nun sei alles aus und der geglückte Anfang nur Zufall.

Aber nach der Pause, im Hochgebirge, bekommt man für nur eine Eintrittszarte ein drittes Stück in der vierten Stunde vorgesetzt, ein Stück, das stilistisch ganz neu ansetzt und erkennen läßt, daß die Herren Brecht und Ionesco ihren großen Vorläufer hatten, der ihnen aber immer noch ein gutes Stück an Sprachgewalt voraus ist. Er schüttelt nun wieder die Plüschecken ab, unter Jenen ihn deutsche Philologie ein Saeculum lang und Schröder einen zweiten und dritten Akt lang versteckt haben, und es wird wieder großartig. Von des Kaisers Zelt könnte man glauben, es sei die auf dem Mond gelandete Kapsel der Rakete einer katholischen Macht, es schneit, und der kaiserliche Stab trägt Tarnanzüge wie die deutsche Wehrmacht in Rußland. Das ist eine Art, die Sache neu zu machen, die durch und durch überzeugt. Wohingegen des Wanderers Regenmantel von C & A und die aus Decken geschneiderten Hausanzüge von Philemon und Baueis wie diese selbst an dem plötzlich gänzlich unstilisierten Gartentisch einfach albern wirken.

Aber auf einen Stilbruch mehr oder weniger kommt es nun schon nicht mehr an. Er dauert auch nicht lang. Dahinter wird es von neuem neu, wenn Lynkeus von seinem Stahlgerüst aus über Faustens Deichlandschaft schaut, der, nun hundertjährig, im Tropenanzug mit Bambusstock das »Faustische« ganz und gar überwindet und goethisch wird, nämlich ein genialer Mensch von höchster Fragwürdigkeit, den der Teufel nur deshalb nicht holt, weil Goethe selber nicht vom Teufel geholt werden wollte.

Da er an einen Himmel nicht glaubte, dieser Intellektuelle auf lebenslänglicher Flucht vor falschen Geglaubtheiten, so gerät ihm der gequält positive Schluß schon beim Schreiben zum puren Schaubild, zum pompösen Schwindel. Vielleicht meint Schröder den Aufmarsch der Nylon-Engel so ironisch wie hoffentlich die Friseur-Reklame auf dem TV-Schirm im ersten Akt, aber man ist sich dessen nicht ganz sicher. So bleibt ein Rest, den man auch gern von Mayer gestrichen gesehen hätte, ein Rest von wahrhaft gigantischem Kitsch. Was wäre das für ein »Faust« gewesen, in dem Mephistopheles die letzten Worte hätte: »Vorbei! Ein dummes Wort. Warum vorbei?« ... bis: »Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.«

Er, von Schellow gespielt, war die Gestalt des Abends, nur vergaß er leider Manchmal, weil auf Eleganz angelegt daß er hinken sollte. Aber wenn er hinkte, war auch das stupend gekonnt. Borcherts Faust hatte demgegenüber einen so schweren Stand wie im Text.

Wie sehr er der Dichter des Teufels war, das immerhin sieht man in Schröders Monster-Show. Wenn nur der Regisseur mehr Mut zu seiner eigenen Courage gehabt hätte, oder, schlicht gesagt: mehr Stilgefühl.

Anfänglich ging das Publikum erfreut und lebhaft mit. Es gab Szenenbeifall. Die Zustimmung vor der großen Pause klang bereits müder. Mit Würstchen in der Hand wurde von alten Theater-Routiniers der Gründgens-Inszenierung vergangener Zeiten wehmutsvoll gedacht.

Schröders »Faust II«-Inszenierung: Mephisto vergaß das Hinken

Erich Kuby
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