MENSCHENVERSUCHE Seuchen im Karton
Niedergeschlagen saß der Kriegsgefangene auf seiner Holzpritsche. Plötzlich öffnete sich die Tür, Wärter drückten den Häftling nieder, ein Arzt beugte sich über ihn: »Ich gebe dir jetzt eine Vitaminspritze«, beruhigte der Mediziner, »damit du gesund bleibst.«
Wenige Tage nach der Injektion wand sich der Häftling in Qualen. Er hatte hohes Fieber, spuckte Blut, sein Unterleib war ballonartig aufgeschwollen. Dann starb er: Der Arzt hatte ihm Milzbrand-Erreger in die Vene gespritzt.
Mit solch grauenhaften Versuchen an Kriegsgefangenen testeten japanische Mediziner, ähnlich wie die Nazi-Ärzte in den Konzentrationslagern, vor und während des Zweiten Weltkrieges die Wirkung der verschiedensten Bakterien und Gifte auf den menschlichen Körper. Ihr Auftrag: Sie sollten herausfinden, welche Arten von Krankheitskeimen am besten für die Verwendung in biologischen Waffen (B-Waffen) geeignet seien. Mindestens 3000 Kriegsgefangene kamen bei den Greuel-Experimenten ums Leben.
Doch im Gegensatz zu den deutschen KZ-Ärzten, von denen viele bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen verurteilt wurden, blieben die japanischen B-Waffen-Mediziner ungeschoren: Keiner von ihnen wurde nach dem Krieg vor dem Internationalen Gerichtshof in Tokio angeklagt. »Von diesen Kriegsverbrechen hat das Militärtribunal nichts erfahren«, so der Niederländer Bert Röling, einer der damaligen Richter.
Hohe amerikanische Militärs und Politiker freilich, so stellte sich jetzt heraus, wußten spätestens seit 1946 von alledem: von zu Tode gespritzten chinesischen Soldaten, von bei lebendigem Leib sezierten amerikanischen Jagdfliegern, von russischen Seeleuten, die tagelang unter Röntgenapparaten festgeschnallt wurden. Doch die Amerikaner schwiegen und deckten die Folterknechte im Arztkittel.
Diese »häßliche und widerwärtige Geschichte« (so der Londoner »Guardian") enthüllte kürzlich der amerikanische Journalist und Historiker John W. Powell in einem Forschungsbericht, der in der Oktoberausgabe des US-Wissenschaftsblattes »The Bulletin of the Atomic Scientists« veröffentlicht wurde.
Powell war einer der ersten, die Zugang zu inzwischen freigegebenen Geheimakten des amerikanischen Außenministeriums S.233 und des Verteidigungsministeriums hatten - mit dem Code »Top Secret« versehenen Funksprüchen und Kurierschreiben, die zwischen dem Stab der US-Pazifikarmee und Washington hin- und hergingen.
Aus den Dokumenten geht auch hervor, warum die Amerikaner ihr Wissen um die Menschenversuche nicht dem Tokioter Gerichtshof preisgaben: Von 1947 an arbeiteten sie intensiv mit den japanischen B-Waffen-Experten zusammen, »um deren Kenntnisse auf dem Gebiet der biologischen Kriegführung für ihre eigene B-Waffen-Produktion zu nutzen« (Powell).
Um die anfangs wenig kooperationsbereiten Japaner zur Zusammenarbeit zu gewinnen, versprachen die US-Militärs den Medizinern Straffreiheit. Offenbar mit Skrupeln behaftete Beamte im amerikanischen Außenministerium, die dagegen Einwände erhoben, erhielten postwendend ein Memorandum aus Tokio - ein Dokument der zynischen Zweckorientiertheit, mit der die Armee die ganze Aktion »andhabte: Die japanische B-Waffen-Gruppe ist die einzige bekannt« » Quelle für Daten über wissenschaftlich kontrollierte » » Experimente, die direkte Wirkweisen von B-Waffen-Stoffen auf » » den Menschen zeigen ... Der Wert der japanischen Daten ist » » für die USA und deren nationale Sicherheit von so » » herausragender Bedeutung, daß er die aus einem Strafverfahren » » wegen Kriegsverbrechen resultierenden Vorteile (für die USA) » » bei weitem übertrifft. »
Der wichtigste Informant der Amerikaner war der Truppenarzt Dr. Shiro Ishii, ein ehrgeiziger Chirurg im Rang eines Generalleutnants, der in Aussehen und Mentalität dem SS-Führer Heinrich Himmler ähnelte. Als Chef des B-Waffen-Projekts errichtete er von 1931 an vornehmlich in der (von der japanischen Armee besetzten) Mandschurei mindestens ein halbes Dutzend KZ-ähnlicher Forschungslager.
Die größte Anlage dieser Art, die sogenannte Einheit 731, entstand nahe der mandschurischen Stadt Harbin - ein gewaltiger Komplex mit leistungsfähigen Bakterienkulturen (Monatsproduktion: acht Tonnen), modern ausgestatteten Forschungslabors und einem Gefängnis für die »menschlichen Versuchsobjekte« (Powell), dazu ein Krematorium zu deren Beseitigung post experimentum.
Bei ihren Menschenversuchen infizierten die Ärzte Tausende von Kriegsgefangenen systematisch mit allen erdenklichen Seuchen - Beulenpest, Typhus, Ruhr, hämorrhagischem Fieber, Cholera, Anthrax (Lungenmilzbrand), Tuberkulose und Pocken.
Überlebten die Häftlinge die Tortur, wurden sie häufig mit Morphium umgebracht. »Dabei geschah es oft, daß die Opfer, bevor sie starben, zergliedert wurden«, erinnerte sich der Harbin-Mediziner Dr. Sueo Akimoto.
In einem der von Powell entdeckten Berichte für die US-Armee beschrieben die B-Waffen-Experten Dr. Kasahara Shiro und General »asaji den Verlauf eines Menschenversuchs: Eine Lösung aus » » Mäusehirn ... wurde injiziert ... und hatte nach einer » » Inkubationszeit von sieben Tagen Symptome zur Folge. Die » » höchste Temperatur wurde mit 39,8 Grad erreicht. Als das » » Fieber am zwölften Tag zurückging, wurde das Subjekt » » getötet. »
Außerhalb ihrer mörderischen Seuchenforschung, gleichsam nebenbei, unternahmen die Harbin-Ärzte zahlreiche andere Experimente mit Menschen; auch an diesen Versuchen, so fand Powell, war die US-Armee brennend interessiert:
* In frostkalten Winternächten ließen die Mediziner, auf der Suche nach einem Heilmittel gegen Erfrierungen, Gefangene mit Wasser übergießen; S.234 die Opfer mußten im Freien stehen, bis sie steif gefroren waren.
* Um herauszufinden, wie lange Menschen ohne ausreichende Ernährung leistungsfähig bleiben, ließen die Harbin-Wissenschaftler viele ihrer Häftlinge wochenlang hungern. Die Kandidaten bekamen täglich zwischen 900 und 1800 Kalorien zu essen, jeden Tag mußten sie mit schwerem Gepäck auf dem Rücken den Lagerhof 100mal umrunden.
* Die Folgen von Schrapnell-Verletzungen studierten die Ärzte an Gefangenen, in deren Nähe sie Splittergranaten hatten hochgehen lassen - alle erkrankten an Wundbrand und starben.
Unter den menschlichen Versuchsobjekten befanden sich auch US-Soldaten, an denen die japanischen Mediziner »die Widerstandsfähigkeit von Angelsachsen gegen verschiedene Seuchen testeten« (so einer der B-Waffen-Reports). »Dieser Tatbestand war in Washington bekannt«, konstatierte Powell, »als die Entscheidung getroffen wurde, die B-Waffen-Ärzte nicht vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen.«
Neben Ärzten arbeiteten in den Forschungslagern zahlreiche Biologen und Techniker. In Teamarbeit entwickelten sie mindestens sechs verschiedene Typen von Bakterienbomben, die später in Serie gebaut wurden - bis zu anderthalb Meter lange Seuchengeschosse, in deren Giftbehältern aus Glas oder Porzellan zwischen zwei und 25 Liter hochkonzentrierter Mikrobenlösung schwappten.
Einem Pappkarton hingegen ähnelte die sogenannte Floh-Bombe, die General Ishii Ende der dreißiger Jahre entwickeln ließ. Sie enthielt einige Pfund Weizen oder Gerste und Hunderttausende von Flöhen, die vorher mit dem Blut pestkranker Ratten gefüttert worden waren.
Beim Aufschlag der verderbenbringenden Kisten im Zielgebiet barsten die Pappwände, Flöhe und Korn wurden ausgestreut. Das Getreide lockte Ratten an, die dann von den Pest-Flöhen mit der Seuche infiziert werden »und auf diese Weise eine natürliche Epidemie auslösen sollten« (Powell).
Vor dem militärischen Großeinsatz der mit hohem Aufwand entwickelten Bakterien-Bomben schreckten die japanischen Oberbefehlshaber zu Ishiis Bedauern jedoch zurück. Sie fürchteten offenbar, die Alliierten würden dann mit ähnlichen Waffen zurückschlagen und ganz Japan verseuchen.
Als sowjetische Panzer am 8. August 1945 in die Mandschurei einrollten, setzten sich Ishii und seine rund 1000 Experten ab. Sie töteten ihre restlichen Gefangenen und zerstörten die Forschungslager; ihre Aufzeichnungen über die Menschenversuche nahmen sie mit.
Anfang 1946 erfuhren die Amerikaner, die Japan und Südkorea besetzt hatten, von den Experimenten der B-Waffen-Einheiten. Die Militärpolizei stöberte Ishii und seine engsten Mitarbeiter auf, sie wurden inhaftiert und wochenlang verhört.
Besonders Ishii, als Militär mit der Psyche von Kommißköpfen vertraut, zeigte sich dabei ausnehmend geschickt: Geheimnisvoll erzählte er von den bakteriologischen Forschungen, machte Andeutungen über neuartige Techniken beim Bau von B-Waffen und weckte so erwartungsgemäß das Interesse des amerikanischen Generalstabes.
Als die Amerikaner mehr wissen wollten, stellte Ishii seine Bedingungen:
»Ishii ist bereit, sein ganzes Versuchsprogramm offenzulegen, wenn ihm sowie seinen Vorgesetzten und Untergebenen Straffreiheit versprochen wird«, so der Wortlaut eines von Powell gefundenen Top-Secret-Memorandums des US-Hauptquartiers in Tokio.
Nachdem ihnen die gewünschte Straffreiheit zugesichert worden war, packten Ishii und seine Experten aus. Sie verfaßten detaillierte Reports über Verlauf und Ergebnisse ihrer Menschenversuche, fertigten exakte Schemazeichnungen der von ihnen entworfenen Bio-Bomben und händigten den Amerikanern einige Tausend Diapositive aus: Aufnahmen von Gewebeproben toter Häftlinge.
Das gelieferte Material beeindruckte den Chef des US-Forschungszentrums für bakteriologische Kriegführung in Fort Detrick (US-Bundesstaat Maryland), Dr. Edwin Hill. In einem bis vor kurzem noch geheimen Memorandum schrieb er: » Die Informationen haben das bisherige Wissen auf diesem » » Gebiet ergänzt und vergrößert. ... Solche Daten können in » » unseren Labors wegen der mit Menschenversuchen verbundenen » » Skrupel nicht erlangt werden. Es ist zu hoffen, daß den » » Personen, die diese Informationen weitergegeben haben, » » Unannehmlichkeiten erspart bleiben. »
»Unannehmlichkeiten« blieben den B-Waffen-Ärzten in der Tat erspart: Viele stiegen in hohe Positionen im japanischen Verteidigungs- und Gesundheitsministerium auf, andere arbeiteten in Krankenhäusern oder lehrten an Universitäten. »Manche von ihnen erfreuen sich außerordentlicher Gesundheit und genießen noch heute ihren Ruhestand«, beendete Powell seinen Bericht im »Bulletin of the Atomic Scientists«.
Was der Historiker über die Zusammenarbeit zwischen japanischen B-Waffen-Experten und höchsten amerikanischen Regierungsstellen recherchiert hatte, mochte die Redaktion des Wissenschaftsmagazins zuerst nicht glauben.
Sie beauftragte Fachleute, Powells Forschungsarbeit sorgfältig nachzuprüfen. Deren Urteil: »Es ist alles nur zu wahr.«
S.233
Die japanische B-Waffen-Gruppe ist die einzige bekannte Quelle für
Daten über wissenschaftlich kontrollierte Experimente, die direkte
Wirkweisen von B-Waffen-Stoffen auf den Menschen zeigen ... Der Wert
der japanischen Daten ist für die USA und deren nationale Sicherheit
von so herausragender Bedeutung, daß er die aus einem Strafverfahren
wegen Kriegsverbrechen resultierenden Vorteile (für die USA) bei
weitem übertrifft.
*
Eine Lösung aus Mäusehirn ... wurde injiziert ... und hatte nach
einer Inkubationszeit von sieben Tagen Symptome zur Folge. Die
höchste Temperatur wurde mit 39,8 Grad erreicht. Als das Fieber am
zwölften Tag zurückging, wurde das Subjekt getötet.
*
S.234
Die Informationen haben das bisherige Wissen auf diesem Gebiet
ergänzt und vergrößert. ... Solche Daten können in unseren Labors
wegen der mit Menschenversuchen verbundenen Skrupel nicht erlangt
werden. Es ist zu hoffen, daß den Personen, die diese Informationen
weitergegeben haben, Unannehmlichkeiten erspart bleiben.
*
S.233Ausriß aus der Veröffentlichung im »Bulletin of the AtomicScientists«.*S.234Dichtigkeitsprüfung der Manipulator-Handschuhe.*