
Gehör für schwarze Frauen Die Stummschaltung aufheben


Mode-Influencerin Kahlana Barfield
Foto:Vivien Killilea/ Getty Images
In einem Land, in dem man als schwarzer Mensch nicht atmen kann, zählt zu den wichtigsten Mitteln der Notwehr, eine Stimme zu haben, die laut genug ist, um gehört zu werden.
Es ist nur eine von vielen Initiativen, die nach der Tötung von George Floyd ins Leben gerufen wurden: Im Rahmen der weltweiten Mobilisierung vieler Menschen für Antirassismus haben sich am Mittwoch internationale Prominente bereit erklärt, an der #ShareTheMicNow-Kampagne teilzunehmen. Die Idee: Einen Tag einer schwarzen Person die Kontrolle über das eigene Instagram-Konto zu übergeben, damit diese sich Gehör verschaffen kann.
Das Mikro übergeben
50 schwarze Künstlerinnen, Aktivistinnen, Journalistinnen und Unternehmerinnen haben am Mittwoch in Solidarität mit der Kampagne die Instagram-Konten von weißen Schauspielerinnen, Politikerinnen und Autorinnen übernommen und mit ihren Inhalten bespielt. Julia Roberts überließ beispielsweise der ehemaligen "InStyle"-Herausgeberin und Mode-Influencerin Kahlana Barfield Brown ihren Account und damit ihre 8,8 Millionen Fans, die nun Browns Geschichte hören und sehen können. Gwyneth Paltrow übergab das Mikro an Latham Thomas, die Gründerin von "Mama Glow", einer Plattform für Mutterschaft. MSNBC-Nachrichtenmoderatorin Zerlina Maxwell erklärt uns amerikanische Politik auf dem Kanal von Hillary Clinton. Insgesamt könnten 300 Millionen Menschen erreicht werden.
Samira El Ouassil, 1984 in München geboren, ist Schauspielerin und Autorin. Für ihre medienkritische Kolumne »Wochenschau« auf uebermedien.de wurde sie mit dem Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik ausgezeichnet. Jüngst wurde sie vom »Medium Magazin« zur Kulturjournalistin des Jahres gekürt. Im Oktober 2021 veröffentlichte sie zusammen mit Friedemann Karig den Bestseller »Erzählende Affen«.
Ins Leben gerufen wurde #ShareTheMicNow von Bozoma Saint John (die sich um das Konto von Kourtney Kardashian kümmert), Marketingchefin der Künstleragentur Endeavor, den Autorinnen Luvvie Ajayi Jones und Glennon Doyle sowie Stacey Bendet, der Schöpferin der Marke Alice + Olivia. Das Ziel der Kampagne: "Wenn die Welt den Frauen zuhört, hört sie den weißen Frauen zu. Viel zu lange sind die Stimmen schwarzer Frauen ungehört geblieben, obwohl sie ihre Stimmen seit Jahrhunderten lautstark einsetzen, um Veränderungen herbeizuführen. Heute ist es mehr denn je notwendig, dass wir eine vereinigende Aktion schaffen, um das Leben und die Geschichten schwarzer Frauen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir müssen den schwarzen Frauen zuhören".
Die Aktion ist also ein digitales Megafon für eine gesellschaftspolitische Kommunikation, die durch Reichweite Aufmerksamkeit schaffen und eine bisherige Stummschaltung der schwarzen Frau aufheben möchte. Es handelt sich um eine sehr wirksame Form von Clicktivism: Frauen mit hohem symbolischem Kapital, wie es der Soziologe Pierre Bourdieu nennen würde, überlassen ihre FollowerInnen schwarzen Frauen, deren Stimmen in der amerikanischen Gesellschaft unzureichend wahrgenommen werden.
Filterblasen zum Platzen bringen
Durch diesen Austausch wird also bestenfalls ein Publikum erreicht, das diese Frauen höchstwahrscheinlich nicht so einfach aus eigener Kraft erreichen können. Die in diesem Fall tatsächlich existierenden Filterblasen werden für eine Weile zum Platzen gebracht, um blinde Flecken sichtbar zu machen.
"Als schwarze Frauen verwenden wir unsere Kanäle, um unsere Geschichten zu erzählen, aber wir haben oft das Gefühl, dass sie nur von unserer eigenen Gemeinschaft gehört werden", sagte Kahlana Barfield Brown auf Instagram .
Weil ihre Geschichten nur in der eigenen Community gehört werden, bleiben ihre Schicksale für die breite Öffentlichkeit oft unsichtbar. Obwohl sie zum Beispiel ebenso Opfer amerikanischer Polizeigewalt sind, kennt man, außer derzeit den der 26-jährigen Breonna Taylor, kaum die Namen der Opfer: Atatiana Jefferson (28), die von einem Polizisten erschossen wurde, als sie durch ihr Schlafzimmerfenster nach dem Rechten schaute. Die siebenjährige Aiyana Stanley-Jones - der Polizist tötete sie versehentlich mit einem Kopfschuss, während sie schlief. Die schwangere Charleena Lyles (30), die die Polizei wegen eines versuchten Einbruchs rief und von den eintreffenden Beamten erschossen wurde.
Schwarze Frauen ersticken von der Öffentlichkeit unbemerkt
Schwarzen Frauen fehlt in der US-amerikanischen Gesellschaft ebenso die Luft zum Atmen. Aber sie ersticken zumeist von der Öffentlichkeit unbemerkt, weil sie zweifach unsichtbar gemacht werden: als Frau und als schwarze Person.
Um auf diese Notlage schwarzer Frauen hinzuweisen, erweiterte die afroamerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw das Konzept der Intersektionalität: Sie stellte fest, dass "der Kampf gegen Rassismus auch den Kampf gegen Sexismus einschließen muss."
Die Professorin für Recht an der UCLA in Los Angeles und an der Columbia University New York entwickelte ihre Thesen anhand des Falls von Emma DeGraffenreid. Diese hatte 1976 eine Klage gegen General Motors wegen sexistischer und rassistischer Diskriminierung bei ihrer Einstellung eingereicht. Der Zweck der Beschwerde war es, hervorzuheben, dass Rassismus und Sexismus miteinander kombiniert und manchmal aus institutioneller Sicht genährt werden. Der betreffende Richter wies die Klage ab, da bei General Motors sowohl Afroamerikaner als auch Frauen arbeiteten; daher konnte die Firma also gar nicht rassistisch oder sexistisch sein.
Emma DeGraffenreid als Pionierin der Intersektionalität
"Aber der Richter erkannte das eigentliche Problem nicht", erklärte Crenshaw. "Die Afroamerikaner, die dort arbeiteten, meistens im Industrie- und Wartungsbereich, waren alle Männer. Und die Frauen, die dort in der Regel als Sekretärinnen oder an der Rezeption tätig waren, waren alle weiß. Nur wenn der Richter den Zusammenhang zwischen diesen Richtlinien erkannte, würde er die zweifache Diskriminierung nachvollziehen können, der Emma DeGraffenreid ausgesetzt war."
Als schwarze Frau hatte sie keine Chance auf einen Job bei General Motors, weil sie schwarz oder eine Frau war, sondern weil sie schwarz und eine Frau war. Das ist Intersektionalität.
Sichtbarmachung der Missstände
Ursprünglich war es dieser blinde Fleck im Gesetz, auf den die Idee der Intersektionalität abzielte. Heute überschneidet sie sich weitgehend mit der Idee, dass Diskriminierung vielfältig ist und dass sie (aber nicht immer) Geschlecht, soziale Klasse, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Religion oder Behinderung verbindet.
Erst das Anerkennen von Mehrfachdiskriminierungen ermöglicht für die Betroffenen eine Sichtbarmachung der Missstände - und anschließend ihre Veränderung. Deshalb ist das Gesehen– und Gehörtwerden so wichtig für transformative Prozesse in einer Gesellschaft; deswegen ist #ShareTheMicNow so ein bemerkenswertes Instrument.
Das Übergeben des Mikros ist nicht nur dafür da, Aufmerksamkeit zu generieren und die kollektive Sensibilität zu erhöhen in der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Das Ziel ist auch, dass das Wissen von diesen Diskriminierungen so groß wird, dass es in die Politik übertragen werden muss.
Der von #blackouttuesday ernüchterte Kulturpessimist muss die Aktion für Klicktivismus halten, das zwar das kollektive Mitgefühl kurzzeitig erhöht, im Endeffekt aber nichts ändert, da sie im Symbolischen operiert. Kurze Störungen eingefahrener Routinen in sozialen Netzwerken werden nicht den weltweiten Rassismus von heute auf morgen beenden. Und auch generell mehr "Mensch-das-ist-ja-ganz-schön-schlimm-alles"-Empathie können das strukturelle Problem von Ungerechtigkeit nicht lösen. Zumindest nicht allein.
Verkannt wird dabei aber die Bedeutung einer konstruktiven Erzählung, die Notwendigkeit von Vorbildern und Repräsentation in sozialen Netzwerken sowie im Rahmen jeder politischen Mobilisierung: der Wert einer großen Gruppe von Menschen, die gemeinsam einer Sache oder einer Person Gehör schenkt und mit einer unverdrängbaren Wahrheit ins Sichtfeld drängt. Sie lautet hier: Jeder Mensch hat das Recht auf Unversehrtheit. Jeder auf eine Stimme. Jeder aufs Atmen.