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Sightseeing-Tour zu Elisabeth

aus DER SPIEGEL 1/1977

Daß Shakespeare, der für seine Zeitgenossen auch ein Volksstückautor war, für uns die Bildungsringe eines Klassikers angesetzt hat, liegt nicht nur am Schweiß vieler Philologen-Generationen.

So unmittelbar wir auch mit Shakespeare tun (der polnische Kritiker Jan Kott interpretierte den Dichter kurzerhand zu »unserem Zeitgenossen"), so sehr ihm auch Schauspieler, Regisseure, Rezensenten auf die Schulter klopfen, wenn sie ihn herbeizitieren -- es bleiben da Distanzen, Mißverständnisse, Schwierigkeiten.

Romeo, der Prototyp des Liebenden, redet er nicht für seine Leidenschaft allzu silbenstecherisch ausgeklügelt; so als hätte sein Gefühl eine Schule klassischer Rhetorik absolviert?

Richard III., Inbild aller politischen Schurken und Charakter-Vorbild aller Hitler, ist er nicht, wenn er augenzwinkernd über die Rampe mit dem Publikum spricht, ein elisabethanischer böser Kasper?

Und erhält er nicht, mit dem Erringen der Krone, eine Weihe und Würde, die einen schier magischen Glauben an die Kraft der erworbenen Herrschaft voraussetzt?

Macbeth schließlich, genaues Psychogramm von Ehrgeiz, Ehefrustration, den Konsequenzen politischer Taten, glaubt er nicht gleichzeitig an Hexen und Prophezeiungen, die wir längst rationalisiert und in die Verliese des Unterbewußten verbannt haben?

Kurzum: Man kann die Berliner Schaubühne schon verstehen, wenn sie sich nicht so einfach an Shakespeare rantraute, als hieße er Ibsen oder Kroetz, sondern für Shakespeare ein Vorstudium absolvierte, zu dessen Ergebnis-Besichtigung sie an zwei Abenden in die CCC-Filmstudios nach Spandau einlädt (SPIEGEL 52/1976).

»Shakespeare's Memory«, diese beiden bunten Abende mit gemischtem Programm, bei dem die Zuschauer insgesamt sieben Stunden wie auf einem Jahrmarkt oder Volksfest auf den Beinen waren, ließen einige Thesen erkennen, die sich Peter Stein, sein Dramaturg Dieter Sturm und das Ensemble aus dem Umkreis Shakespeares erarbeitet haben.

These Nummer eins: Shakespeare war weniger akademisch, weniger bildungstheatralisch, als es sich unsre Schulweisheit träumen läßt. Zum Beleg knallten Schauspieler mit Bärenpeitschen, tapsten in Faschingsmasken durch die Zuschauer, tanzten Seil und schlugen Rad.

Die Problematik solcher Demonstrationen jedoch ist gleich doppelt spürbar. Einmal fällt man damit aus dem Verbund der Shakespeareschen Stücke heraus -- Brechts »Dickicht der Städte« wäre ja mit einem Boxkampf den Zuschauern auch kaum zu entschlüsseln.

Zum andern sind die Schaubühnen-Künstler alles andere als Populär-Akrobaten. Ihre Entschlossenheit. volkstümlich zu sein, wirkte etwa so, wie wenn ein Jesuitenseminar Fußball mit Clochards und Pennbrüdern spielt: rührend, herablassend.

These Nummer zwei: Shakespeare war seiner Zeit, ihrer Weltsicht, ihren Vorstellungen stärker verhaftet, als wir gemeinhin wahrhaben wollen.

Die Schaubühne also zeigte (glänzend) das Rhetorik-Repertoire und die Cicero-Verliebtheit der Renaissance, zeigte (weniger glänzend) die astronomischen und astrologischen Vorstellungen der Shakespeare-Zeit, ließ Schauspieler über die Melancholie referieren, Hermaphroditen erläutern -- Deutschlands bestes Theater als Sonntagsschule.

Man spielte, grob gesprochen, in den fabelhaft ingeniösen und ebenso fabelhaft teuren Bühnenbildern (Karl-Ernst Herrmann) und Kostümen (Moidele Bickel) das, was normalerweise ins anspruchsvolle Programmheft abgedrängt ist.

Theater paradox: Die Bühne dunkel und schweigend, das Programmheft illuminiert und plappernd -- das ist etwa so, als ob man auf einer Kunstauktion Kunstkritiker statt Bilder kaufen müßte.

These Nummer drei: Shakespeare lebte unter der Herrschaft der Elisabeth; wir wissen wenig von Elisabeth.

Nur zu wahr, aber indem man die Königin »rekonstruiert« und sie eigene Texte aufsagen läßt, die man zeitgenössischen Urteilen über das Herrschertum konfrontiert, macht man angestrengten Schulfunk und komfortables Sightseeing zugleich: Rom in zwei Tagen, Elisabeth in einer Stunde, we've just made it.

Doch das alles wäre, da es oft viel zu staunen und manchmal sogar was zu sehen gab, vertretbar gewesen, hätte die Quintessenz der Abende nicht so erschreckend gemischt ausgesehen.

Denn aus der Nutzanwendung für Shakespeare machte die Schaubühne ein verwirrendes, noch dazu simultanes Potpourri von Shakespeare-Szenen: teils als unheiteres Dalli-Dalli ("War das jetzt der »Sturm« oder »Macbeth«?"), teils als barbarischen Querschnitt durch die schönsten Stellen (so lädt Anneliese Rothenberger zu Opern-Arien).

Und da zeigte sich, daß alle alexandrinische Anstrengung und schweißtreibende Vorarbeit lediglich zu lauter Provinz-Partikeln und Stadttheater-Teilchen von Shakespeare geführt hatte.

Die große Uhr war geduldig zerlegt worden. Nun tickte sie nicht mehr richtig.

Hellmuth Karasek
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