KUNST Sinnliche Wölbung
Wohl wahr: »Wenn man in der Werkstatt schaffender Künstler verkehrt, erlebt man oft Überraschungen.« Diese Erfahrung sah 1925 ein Louis de Marsalle im Atelier Ernst Ludwig Kirchners bestätigt: Der bekannte Maler habe sich ihm auch als Bildhauer enthüllt, der berufen scheine, »eine neue Bewegung in der so sehr zurückgebliebenen Plastik unserer Zeit einzuleiten«.
Der Berichterstatter schöpfte wahrhaftig aus der Quelle. Jener Name nämlich, unter dem der Aufsatz »Über die plastischen Arbeiten von E. L. Kirchner« im Kunstblatt »Der Cicerone« erschien, war ein - auch sonst gelegentlich benutztes - Pseudonym des Künstlers selber. Was dem Text folglich an Objektivität abgehen mochte, das glich er durch seinen Wert als ein authentisches Bekenntnis aus.
»Ebenso weit von den Griechen wie von den Negern entfernt«, ordnete Kirchner-Marsalle seine zumeist hölzernen Bildwerke ein; denn sie seien, ob menschliche Köpfe und Figuren oder Tiergestalten, »unmittelbar geboren aus der Anschauung des heutigen Lebens« und dementsprechend eigenhändig »direkt aus dem Material« herausgehauen oder -geschnitzt. So werde »jede Wölbung und Vertiefung von der Sinnlichkeit der Hand des Schaffenden geformt«. Bei ausgeprägtem »Streben nach monumentaler Einfachheit« stellte der Künstler »auch die Farbe in den Dienst seiner Plastik«, und als »spezifisch deutsche Eigenart« sollte neben formalen Werten noch ein »geistiger Gehalt« zum Ausdruck kommen.
Zeitbewußt, unmittelbar, vereinfachend stilisiert, auf durchgeistigte Weise sinnlich und in dem allen spezifisch deutsch - so läßt sich pauschal eine Kunst beschreiben, für die Kirchner tatsächlich eine führende Rolle spielte, wenn auch nicht ganz so konkurrenzlos, wie er glauben machte: die Skulptur des Expressionismus. Mit ihr kann der Betrachter auch heute noch ähnliche Überraschungen erleben wie seinerzeit, angeblich, Marsalle bei Kirchner.
Denn abgesehen von den Werken Ernst Barlachs und allenfalls Wilhelm Lehmbrucks, verblassen expressionistische Plastiken im öffentlichen Bewußtsein fast völlig neben den Gemälden derselben Richtung und oft derselben Künstler. Längst fällige Korrekturen dieser eingeengten Sicht ermöglicht jetzt eine materialreiche Ausstellung, die aus den USA nach Deutschland kommt und von Donnerstag an in der Kölner Kunsthalle gezeigt wird, die erste Übersicht zum Thema »Skulptur des Expressionismus«. _(Bis 26. August. Katalog im ) _(Prestel-Verlag; 232 Seiten; 38 (im ) _(Buchhandel 58) Mark. )
»Eine wahrhaft epochemachende Schau«, berichtete Ende letzten Jahres der Kritiker der Londoner »Times« aus Los Angeles, wo das Unternehmen gestartet worden war. Es versammelt über 150 Bildwerke, zumeist aus dem ersten Jahrhundert-Viertel, von 33 - bekannten und kaum bekannten - Künstlern. Vieles davon ist sonst in Privatsammlungen verborgen, und einige Stücke sind erst bei den Ausstellungsvorbereitungen wieder aufgestöbert worden, so eine Kirchner"Tänzerin«, die bis dahin nur noch durch ein Atelier-Photo überliefert zu sein schien.
Versteckt, verstreut, aber auch dezimiert wurde expressionistische Skulptur durch fallweise wechselnde Widrigkeiten, unter denen das Nazi-Verdikt gegen die Moderne aber die meisten Bildhauer betraf. Gerade dreidimensionale Verkörperungen einer neuen Kunst boten sich den Barbaren als greifbare Feind-Bilder an. So wurde, stellvertretend für die ganze verhaßte Richtung,
1937 »''Der neue Mensch'', wie ihn sich Jud Freundlich erträumt hat«, schon auf dem Umschlag der Hetzbroschüre zur Ausstellung »Entartete Kunst« angeprangert. Otto Freundlichs Gipsplastik, die da in dämonischer Beleuchtung und Untersicht erschien, wurde nach der Schau-Tournee zerstört.
Abbildungen in dem schäbigen »Ausstellungsführer« sind auch letzte Spuren von Plastiken Kirchners, Erich Heckels und Karl Schmidt-Rottluffs, die im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe konfisziert worden waren. Erst gegen 1930 hatte Direktor Max Sauerlandt (seine privaten Erben liehen jetzt Heckels »Badende mit Tuch« aus) diesen Bildwerken, die bis dahin »noch ungesehen in den Ateliers« gewesen waren, »den ihnen seit langem gebührenden Platz« verschafft. Solche Kunst zeigte ihm »die tiefe seelische Problematik unserer Gegenwart«, aber »auch schon ihre Lösung«.
Doch davon wollten, auch vor 1933, viele Zeitgenossen nichts wissen. Schon 1921 hatten aufgebrachte Lübecker einen Kruzifixus von Ludwig Gies in ihrer Marienkirche verstümmelt, der in expressiver Deformation offenbar unerträglich das Gefühl des Schmerzes beschwor, zugleich damit unausweichlich die Erinnerung an den Krieg. Gequälte und Zusammengebrochene gehörten ebenso zu den Leitfiguren der Bildhauerei wie Gottsucher und Propheten oder aber Liebende in paradiesischer Unschuld.
Keineswegs brauchte das Kriegs-Erlebnis, angesichts dessen beispielsweise Schmidt-Rottluff alles Vergangene als »schwach« empfand und Werke von neuer, beispielloser Intensität hervorbringen wollte, zu Abbildern von Kampf und Tod zu führen. In der Etappe, in Hindenburgs Hauptquartier in Kaunas, fing der Künstler - am Malen gehindert - an, zum erstenmal vollrunde Skulpturen zu schnitzen. Sie gerieten zu Masken und Idolen mit glatter, wie metallisch und nur sparsam farbig schimmernder Oberfläche, Wahlverwandten jener ethnographischen Objekte, die Schmidt-Rottluff zu Hause sammelte.
Neben der altdeutschen war außereuropäische Kunst - wie für die internationale Moderne überhaupt - für expressionistische Bildhauer ein starker Einfluß; auch Kirchner verdankt ihr sichtlich mehr, als sein Text von 1925 suggeriert. Aber wenn einer ferne Kulturen einmal nicht nur in Völkerkunde-Museen studierte, sondern sich tatsächlich auf die Reise begab wie Emil Nolde 1913/14 nach Ozeanien, dann nahm er auch heimatliche Traditionen mit.
Auf den langen Seefahrten bearbeitete Nolde Brennholz mit dem Taschenmesser, indem er den Maserungen und Gabelungen des Materials nachging. Zustande kamen überlängte Figürchen, die - ob »Prophet« oder »Java-Tänzerin« - weit eher nach Barlach aussahen als nach Fern-Südost.
Nicht nur für Nolde war Plastik an eine bestimmte Situation gebunden. Inspirierte Gelegenheitsarbeiten stehen in der Kölner Schau neben Werken von Skulptur-Profis und konsequenten Maler-Bildhauern,
ein uneinheitliches Panorama. Weder ist ein fester Stiltypus definierbar noch sind Länder- und Zeitgrenzen streng gezogen. Mit dem Belgier George Minne etwa reicht die Auswahl noch knapp ins 19. Jahrhundert zurück, Gerhard Marcks (der dann auch einen Lübecker Barlach-Zyklus vervollständigen durfte) führt einen Nach-Expressionismus noch über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Die Blüte solcher Ausdruckskunst aber war längst vorüber.
Seine Bildhauer-Ideen an eine jüngere Künstlergeneration weiterzugeben, war eine Sorge Kirchners in seinem Schweizer Exil (seit 1917) gewesen. In Albert Müller und Hermann Scherer fand er dort tatsächlich fähige Adepten, die bei aller Abhängigkeit auch zu eigenem Ausdruck kamen, so Scherer mit glatteren Oberflächen und stark antinaturalistischer Farbigkeit. Doch, fast wirkt es als Symbol eines unwiderruflichen Epochen-Endes, beide starben noch deutlich vor dem Meister, 1926 und 1927.
Bis 26. August. Katalog im Prestel-Verlag; 232 Seiten; 38 (imBuchhandel 58) Mark.