Zur Ausgabe
Artikel 44 / 85

SKLAVE VON SCHLAGZEILEN

aus DER SPIEGEL 47/1965

Der britische Historiker Alan John Percivale Taylor, 59, ist in Deutschland vor allem durch seine Bücher »Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges« und »Bismarck - Mensch und Staatsmann« bekannt geworden. Sir Ivone Kirkpatrick, der Im vorigen Jahr 67jährig verstarb, war von 1950 bis 1953 britischer Hoher Kommissar In Deutschland. Außer der Mussolini-Biographie schrieb er Memoiren unter dem Titel »Im inneren Kreis«.

Der Zweite Weltkrieg näherte sich seinem Ende. Mussolini war am Gardasee und »regierte« eine italienische faschistische Republik, die weder Macht noch Realität besaß.

Regen schlug an die Scheiben. Mussolini brach die Kabinettssitzung ab und sagte: »Wir sind alle tot.« Dann, halb zu sich selbst: »Ich bin kein Staatsmann. Ich bin ein Dichter und ein bißchen verrückt.« Als ihm der Sohn eines seiner Minister vorgestellt wurde, fragte er: »Was macht er?« Darauf der Junge, trotzig: »Ich bin ein Partisan.« Bravo«, sagte Mussolini, das wäre ich auch in deinem Alter.«

Für eine ganze Generation spielte Mussolini eine große Rolle in Europa. Er erfand den Faschismus, der als eine neue Form politischer Konzeption und Organisation galt. Zwanzig Jahre lang war er der Diktator Italiens. Staatsmänner buhlten um seine Gunst. Hitler erkannte ihn als ebenbürtig an. Dann entglitt ihm die Macht beinahe über Nacht. Ohne Gegenwehr wurde er überrannt. Der Faschismus verschwand, als hätte er nie existiert. Italienische Partisanen erschossen Mussolini, hängten die Leiche mit dem Kopf nach unten vor eine Garage in Mailand. War er nur ein Laut- und Großsprecher, ein Schauspieler ohne Kontakt mit der Realität? Oder steckte etwas wirklich Großes in ihm, für das er verdient hätte, uns im Gedächtnis zu bleiben?

Die Historiker fanden diese Frage schwer zu beantworten. Gewöhnlich haben sie es gar nicht erst versucht. Die meisten Bücher über Mussolini sind kaum mehr als Abenteuergeschichten - gleichsam Librettos für eine Verdi-Oper.

Jetzt hat sich ein englischer Autor an eine ernsthafte Studie gewagt, die es mit Alan Bullocks klassischem Geschichtswerk aufnehmen möchte. Sir Ivone Kirkpatrick war vielleicht nicht der Geeignetste für diese Aufgabe. Er verbrachte sein Leben größtenteils im diplomatischen Dienst Großbritanniens, zuletzt als höchster Beamter des Foreign Office.

Die meisten Diplomaten haben nichts Eigenes zu sagen; sonst wären sie keine Diplomaten. Sir Ivone Kirkpatrick macht da keine Ausnahme. Sein Buch gleicht dem Bericht, den ein Botschafter am Ende jedes Jahres anfertigt: eine säuberliche, angemessene Zusammenfassung, aus Presse-Ausschnitten und Aktenstücken kompiliert. Auch Sir

Ivone Kirkpatricks Werk wurde auf dem anerkannten Quellenmaterial aufgebaut und nur gelegentlich mit ein paar Anekdoten von anonymen »Informanten« angereichert. Das Buch ist zufriedenstellend, soweit es um Zeitabschnitte und Themen geht, die bereits früher untersucht worden sind. An anderen Stellen klaffen Lücken.

Diese Lücken sind nicht nur auf das Versagen der Historiker zurückzuführen. Sie sind auch durch die Art der Karriere Mussolinis selbst bedingt.

Es gibt eine Menge über seine frühen Jahre zu berichten, bis zu dem Moment, da er als Faschistenführer auftrat. Es gibt auch sehr viel Material, in der Tat zu viel, über die Zeit vom Entstehen des Achsen-Bündnisses bis zu Mussolinis Sturz im Jahre 1943. Bekannt sind zahlreiche Einzelheiten über die Republik von Salò und über Mussolinis letzte Tage. Aber über das Regierungssystem des Faschismus steht praktisch überhaupt kein Material zur Verfügung.

Es ist klar, daß viele Leute in Italien, nicht nur Faschisten, Mussolini an der

Macht haben wollten. Die meisten Politiker der liberalen Parteien stimmten für ihn, und das demokratisch gewählte Parlament stellte ihm bis 1925 eine Majorität.

Unklar bleibt, warum die Italiener ihn an der Macht haben wollten. Aus Angst vor dem Kommunismus? Oder fürchtete man, er würde sonst zuviel Unruhe stiften? Eine Wirtschaftskrise gab es in Italien 1922 - im Jahre des Marsches auf Rom - nicht. Es herrschte Ordnung, soweit sie nicht von den Faschisten selbst gestört wurde. Die Behörden funktionierten wirkungsvoll. Es gab starke sozialistische und katholische Parteien. Doch Mussolini fiel die Macht zu, als ob die Zeitsituation von Grund auf revolutionär gewesen wäre. Das alles ist ein Rätsel, und Sir Ivone Kirkpatrick löst es nicht.

Es gibt ein tieferes Problem. Was tat Mussolini mit der Macht, nachdem er sie übernommen hatte? Sir Ivone Kirkpatrick sagt sentenziös, Mussolini sei der erste gewesen, der »eine neue Form des Sozialismus einführte, den Sozialismus des Nationalismus, ein System; das später von vielen anderen Ländern übernommen wurde«. Davon stimmt fast gar nichts.

Hitler mag vielleicht vom Faschismus gewisse Techniken der politischen Uniformierung und des Marschierens gelernt haben, aber auch das ist zweifelhaft. Darüber hinaus lernte er kaum etwas. Es gab nichts zu lernen.

Gewiß appellierte Mussolini an den Nationalismus - in dem Sinne, daß er feurige Reden über Italiens Größe hielt. Aber wo setzte der Sozialismus ein? Mussolini selbst enthüllte gegen Ende seines Lebens die volle Wahrheit, als er erklärte, am Anfang hätte er den Sozialismus einführen wollen, aber einmal an der Macht, hätte er es versäumt. Er hatte den König gebrandmarkt, die Aristokratie, das Bürgertum. Als Diktator ließ er sie unbehelligt und nahm ihre Hilfe in Anspruch.

Das faschistische System beruhte auf einem Schwindel, es war die leere Vortäuschung eines Handelns, dem in Wahrheit die Realität fehlte. Der »Korporative Staat« bildete keine Korporationen

- mit einer bezeichnenden Ausnahme:

im Theater. Es gab keine Wirtschaftsplanung, und das faschistische Italien war gegen die große Depression genauso hilflos wie jeder demokratische Staat. Trotz Mussolinis prahlerischem Kriegsgeschrei würde wenig zur Stärkung der Streitkräfte getan, und Italien trat in den Zweiten Weltkrieg schlechter gerüstet ein als in den Ersten. Der Faschismus vernichtete die Gewerkschaften. Er verschaffte den Gangstern, die Mussolini an die Macht gebracht hatten, gutbezahlte Posten. Sonst hatte er nichts aufzuweisen, dem auch nur die kleinste Bedeutung zukäme.

Mussolini störte das nicht, wenn er am Ende seines Lebens auch noch so heftig das Gegenteil behauptet haben mag. Seinen riesigen Schreibtisch im Palazzo di Venezia hielt er stets von Papieren frei - eine bemerkenswerte Leistung, scheint es, bis man feststellt, daß er nur deshalb mit seiner Arbeit immer auf dem laufenden war, weil er gar keine tat. Bis auf die Berichte seiner Geheimpolizei las er nur wenige amtliche Schriftstücke. Der ausführlichste Kommentar, den er zu einer ihm vorgelegten Akte gab, war ein einziges Wort: »Importante« (wichtig).

Mussolini behauptete, ein Mann der Tat zu sein. In Wirklichkeit war er nur ein Schauspieler in der Rolle eines Tatmenschen. Man kann sagen, er existierte eigentlich nur in dem politischen Theater, das er sich selbst errichtet hatte. Er spielte das schöpferische Genie, den starken Mann, den politischen Denker, den brutalen Tyrannen. Hatte er auf dem Balkon eine dieser Rollen vorgeführt, trat er ins Zimmer zurück und verführte die Frau, die gerade da war. Sogar sein sexuelles Vergnügen war nicht vollständig, bis er sich vom Teppich erhoben und seiner Besucherin ein Geigen-Ständchen - schlecht - vorgefiedelt hatte.

Sir Ivone Kirkpatrick zögert, Mussolini als Schwindler oder als Versager darzustellen. Auch das ist nicht überraschend. Berufsdiplomaten sind darauf abgerichtet, Staatsmänner ernst zu nehmen. Undenkbar einzugestehen, daß einer der berühmtesten kaum mehr als eine komische Figur war.

Mussolini selbst machte sich in dieser Hinsicht wenig vor - seine Ehrlichkeit ist es allein, die mit ihm versöhnen kann. Er wußte, daß er ein Spitzbube und ein Schaumschläger war. Er wußte, wahrscheinlich früher als seine Kritiker, daß er dem völligen Bankrott entgegensteuerte. Ohne Zweifel war ihm klar, daß er Italien in eine Katastrophe gebracht hatte, und irgendwie hatte er auch den unbestimmten Wunsch, dafür zu sühnen. Es war die Wahrheit, wenn er sagte, als jüngerer Mann wäre er auch Partisan geworden - oder fast die Wahrheit, denn er hätte wohl nur verkündet, es zu werden. Er hatte Angst vor Hitler und oft noch mehr vor dessen Sieg. Er konnte dem Glanz des Erfolges nicht widerstehen, und wie irgendein romantischer Poet ließ er sich durch Glorienschein in den Krieg locken.

Dabei war er gar kein Poet, wenn er auch den Anspruch erhob. Er war ein perfekter Journalist, der zum Sklaven seiner eigenen Schlagzeilen wurde. Eines können wir zu seinen Gunsten sagen: Hitler hätte höchstens zum Geschirrspülen getaugt, wenn er nicht Diktator gewesen wäre - Mussolini hätte es bei jedem populären Blatt zu einem gutbezahlten Job gebracht. Sogar der SPIEGEL würde ihn gern genommen haben.

Sir Ivone Kirkpatrick:

»Mussolini«

Propyläen Verlag

Berlin

600 Seiten

38 Mark

Kirkpatrick

Taylor

Diktator Mussolini (1929)

Schlecht gegeigt

A. J. P. Taylor

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 44 / 85
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren