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WOLFE So herzerschütternd

aus DER SPIEGEL 43/1962

Mama, knie nieder und bete für mich«, schrieb der amerikanische Schriftsteller und Harvard-Student Thomas Wolfe 1923 an seine Mutter.

Der Grund, warum Wolfe um mütterlichen Gebetsbeistand bat: Auf der Studio-Bühne der Universität war sein Schauspiel »Welcome to our City« (Willkommen in unserer Stadt) aufgeführt worden, und Harvards Theaterprofessor George Pierce Baker hatte einen New Yorker Theaterproduzenten eingeladen, um ihn für das Stück zu interessieren.

Doch die Hoffnung des damals 22jährigen Autors auf Broadway-Ruhm erfüllte sich nicht. Die fast ausschließlich während der Studentenzeit geschriebenen dramatischen Versuche des späteren Roman-Rhapsoden Thomas. Wolfe - in seinen dickleibigen Prosa-Epen »Schau heimwärts, Engel«, »Von Zeit und Strom«. »Geweb und Fels« und »Es führt kein Weg zurück« besang er das »verlorene, nie gefundene, allgegenwärtige Amerika« - gelangten zu Lebzeiten des 1938 an der Schwindsucht gestorbenen Dichters nicht über akademische Amateurbühnen hinaus.

Erst 1953 wurde das Schauspiel »Herrenhaus« uraufgeführt: von und mit Gustaf Gründgens in Düsseldorf. Und in der vorvergangenen Woche holte wiederum eine deutschsprachige Bühne, das Züricher Schauspielhaus, die professionale Uraufführung von »Welcome to our City« nach Deutscher Titel des Stückes, das im nächsten Jahr auch über bundesrepublikanische Bühnen gehen wird: »Willkommen in Altamont«.

Altamont ist der zu einer vom Konjunkturfieber geschüttelten Wirtschaftswunder-Stadt stilisierte Heimatort Wolfes, Asheville in Nord-Carolina. Haupt- und Kontrastfiguren inmitten eines Ensembles von korrupten Lokalpolitikern, vulgären Immobilienspekulanten und anderen Geschäftemachern sind der melancholisch-noble weiße Rechtsanwalt Rutledge und der selbstbewußt-arrivierte farbige Arzt Johnson.

Rutledge will das von Johnson bewohnte Herrenhaus - seiner Ahnen zurückkaufen, doch der Negerdoktor demütigt den Rechtsanwalt durch die Schilderung des Behagens, das er als Farbiger in den einst von Weißen beschlafenen Betten empfindet.

Rutledges Sohn wird von dem Negerarzt bei einem Rendezvous mit dessen Tochter ertappt und geprügelt. Bei einer von Johnson und einem Bostoner Mulatten-Revolutionär angeführten Revolte der Altamont-Neger gegen ihre von Grundstückspekulanten angezettelte Vertreibung aus dem »Darktown«-Viertel erschießt der Rechtsanwaltssohn den Negerarzt. Während er den Sterbenden im Arm hält, erkennt der alte Rutledge im Stolz seines farbigen Widersachers eigene Charakterzüge.

Autor Wolfe über seine Behandlung des Schwarz-Weiß-Problems: »Ich bin ihnen nach rechts und links auf die Hühneraugen getreten - ich schonte Boston mit seinen Niggersentimentalitäten nicht mehr als den Süden, den ich liebe, aber nichtsdestoweniger züchtige.«

Seine Schreib- und Erfindungslust hielt der junge Dramatiker - wie später auch der kürzungsunwillige Mammutromancier Wolfe - freilich weniger in Zucht: Die über 30 Figuren des allzu locker gefügten Südstaaten-Stückes -darunter das Wolfe-Selbstporträt eines lungenkranken, sarkastischen Schriftstellers - streben wie die zahlreichen Szenen undramatisch auseinander.

In einem Brief an den Harvard-Theaterprofessor Baker hatte Wolfe 1923 diese dramaturgischen Schwächen zu entschuldigen versucht: »Dieses Stück hat nicht darum an die dreißig namentlich aufgeführte Personen, weil ich die Tinte nicht halten konnte. Eines Tages werde ich ein Stück mit 50, 80, 100 Personen schreiben - mit einer ganzen Stadt, einer ganzen Rasse, einer ganzen Epoche -, damit die liebe Seele Ruhe hat.«

Und über das Stückeschreiben im allgemeinen: »Es ist die größte Kunst auf der Welt - mehr als Malerei, Skulptur oder Romanschireiberei -, weil sie so herzerschütternd ist.«

Indes, die von Leopold Lindtberg inszenierte Züricher »Willkommen in Altamont«-Aufführung bewies - trotz raffinierter Film-, Bild- und Textprojektionen, trotz eines von Lindtberg hinzuerfundenen Conférenciers, der Wolfes poetisch formulierte Regieanweisungen vorzutragen hatte -, daß der amerikanische Autor irrte, als er sich für einen berufenen Dramatiker hielt.

Es ist ja auch kein Theater«, hatte Wolfe-Freund und -Verleger Heinrich Maria Ledig-RoWohlt bereits vor der Altamont«-Premiere in Zürich eingeräumt, »aber es ist sehr poetisch, und die werden hier schon was draus machen.«

»Altamont«-Autor Wolfe

Den Süden geliebt...

... und gezüchtigt: Züricher Wolfe-Premiere »Willkommen in Altamont"*

* Mathias Wieman als Rutledge und Wolfgang Reichmann als Johnson.

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