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Pixar-Film »Soul« Das Leben ist kein kosmischer Zufall

»Soul« nähert sich den großen Menschheitsfragen: Was ist die Seele und was der Sinn des Lebens? Er sprengt die Grenzen dessen, was man sich bislang unter einem Animationsfilm für Kinder vorstellte.
aus DER SPIEGEL 53/2020
Szene aus »Soul«: Suche nach einer Bestimmung für das Leben auf der Erde

Szene aus »Soul«: Suche nach einer Bestimmung für das Leben auf der Erde

Foto:

-- / dpa

Wenn man die Musik des Saxofonisten John Coltrane hört, meint man in den virtuosesten Stücken einen Menschen zu erkennen, der mit den Mitteln seiner Kunst nach spiritueller Erneuerung sucht. Nun ist die Kunst des Animationsfilms eine völlig andere als die der Jazzimprovisation: exakt, technisch, von langer Hand geplant. In dem neuen Film »Soul« aber beherrschen die Virtuosen von Pixar ihr Handwerk perfekt, sodass auch hier das Technische in Vergessenheit gerät.

Es geht um einen Jazzpianisten – oder vielmehr: um die Seele eines Jazzpianisten, und nicht, dass der Film nicht schön anzusehen wäre, im Gegenteil: Das Licht ist noch wärmer, die Bewegung der Kamera und der Figuren noch fluider, die Stadt New York scheinbar noch greifbarer umgesetzt als in früheren Filmen des Regisseurs Pete Docter. Heerscharen von Animatoren haben die Wirklichkeit überzeugend nachgebaut und dabei auf magische Weise überhöht. Aber diese Kulisse verblasst schnell hinter der Geschichte, die radikal mit allem bricht, was man sich bislang unter Kinder-Animationsfilmen vorgestellt hat. Es dauert keine fünf Minuten, da sitzt man ungläubig vor dem Bildschirm, weil der Pianist Joe Gardner (übrigens die erste schwarze Hauptfigur in einem Pixar-Film) plötzlich in einen offenen Straßengully fällt und stirbt.

Strichfiguren, die alle Jerry heißen

Im nächsten Moment steht er als Seelenwesen vor den Toren der Ewigkeit. Doch im Jenseits bleiben will Joe auf keinen Fall, schließlich hat er kurz vor seinem unglücklichen Unfall einen Auftritt mit der fiktiven Saxofonistin Dorothy Williams ergattert. Und gehofft, dadurch endlich sein frustrierendes Dasein als Musiklehrer hinter sich lassen und Karriere als Jazzmusiker machen zu können. Der Tod kommt ihm da gerade furchtbar ungelegen. Also versucht Joe, mit allen Mitteln zurück auf die Erde zu finden. Er legt sich mit allmächtigen Bürokraten an, Strichfiguren, die im Jenseits die Dinge regeln und alle Jerry heißen. Schließlich landet er an einem Ort, an dem andere Seelen sich auf ein Erdenleben vorbereiten.

Lichtwesen Joe, 22 in »Soul«: Große Menschheitsfragen

Lichtwesen Joe, 22 in »Soul«: Große Menschheitsfragen

Foto: Pixar / Disney

Eine von ihnen, sie heißt 22, hat darauf allerdings null Bock. Sie fühlt sich ganz wohl als Lichtwesen, das durch die Gegend schwebt, ohne Hunger, Durst und Schmerz zu empfinden. Und vor allem findet sie einfach nicht den Funken, die Bestimmung, der sie ihr Leben auf der Erde widmen will. Abraham Lincoln oder Mutter Teresa – Mentoren im Jenseits – haben schon vergeblich versucht, 22 einen Sinn mit auf den Weg zu geben. Auch Joe gelingt das nicht, doch durch ein Versehen landen die beiden auf der Erde, in New York. Und erleben gemeinsam Abenteuer.

Pete Docter arbeitet seit Beginn seiner erstaunlichen Karriere bei Pixar daran, die Grenzen dessen, was in einem Kinderfilm möglich ist, neu abzustecken. Sein Debüt »Die Monster AG« war immens erfolgreich und wild fabulierend, spielte aber noch nach den Regeln. Aber schon mit »Oben« ließ er einen verbiesterten Rentner an einer Traube Luftballons nach Südamerika schweben. »Alles steht Kopf« war ein Abenteuerfilm, der in der Gefühlswelt einer Elfjährigen spielte.

Was ist die Ewigkeit?

Sein neuer Film »Soul« startet pandemiebedingt nicht im Kino, sondern beim Streamingdienst Disney+. Auch dieses Mal spricht er gleichermaßen Kinder wie Erwachsene an, geht aber noch einen Schritt weiter und nähert sich den großen Menschheitsfragen: Was ist die Ewigkeit? Was ist die Seele und, na klar, was der Sinn des Lebens?

Dass es eine Seele gibt und nicht nur biochemische Prozesse im Hirn, ist für Docter und seine Co-Autoren so klar wie das Leuchten der kleinen Seelen, die sie durch ihren Film schweben lassen. Dabei bedienen sie sich verschiedener spiritueller Quellen: Die buddhistische Idee der Wiedergeburt steht ganz selbstverständlich neben der yogischen vom Kronenchakra, der Glauben von Juden und Christen an das ewige Leben neben der europäischen Philosophie des Geistes. Die Message: Unser Dasein ist kein kosmischer Zufall, sondern hat Sinn und Bedeutung.

Die großen Fragen sind in »Soul« Spielmaterial, aus dem die Macher sich ein positives Bild von der Welt und dem bauen, was sie zusammenhält. Damit geht der Film weiter als viele seiner Vorgänger, in denen das Motiv des Verstorbenen, der es im Jenseits nicht aushält und für eine Aufgabe zurück auf die Erde darf, gewöhnlich schnulzenhaft (»Ghost – Nachricht von Sam«) oder bestenfalls amüsant (»Der Himmel soll warten«) ausgeschlachtet wurde. »Soul« ist im Gegensatz dazu ein rasend unterhaltsames, zutiefst berührendes Slapstick-Meisterwerk, das mehr mit den großen Stummfilmphilosophen Charles Chaplin und Buster Keaton gemein hat als mit den Filmen des Pixar-Mutterhauses Disney.

Was dort gern in glitschige Sentimentalität abgleitet, ist in »Soul« Comedy mit existenzieller Wucht. So muss Joe die Erfahrung machen, dass sein Lebenstraum vom Dasein als erfolgreicher Jazzmusiker vielleicht gar nicht so wichtig ist, wie er immer glaubte. Stattdessen lernt er, dass man für ein erfülltes Leben keinen Zweck oder gar eine Bestimmung braucht, ja dass man sein Glück finden kann, ohne nützlich und verwertbar zu sein. In der protestantisch und kapitalistisch geformten Welt von Disney ist das ein geradezu revolutionärer Gedanke.

Ab 25. Dezember auf Disney+

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