PHILOSOPHIE / ANARCHISMUS Sparren und Spuk
Seht Stirner, seht ihn, den bedächt'gen Schrankenhasser, für jetzt noch trinkt er Bier, bald trinkt er Blut wie Wasser«, reimte Altkommunist Friedrich Engels im Jahre 1842 auf einen Stammtischbruder aus der Hippelschen Weinstube in der Berliner Friedrichstraße.
Engels« Preislied galt dem deutschen Philosophen, Anarchisten und radikalen Individualisten Johann Caspar Schmidt, der unter dem Pseudonym Max Stirner »für alle zahmen Philister« ein Gegenstand »halb der Bewunderung und halb des Grauens« war -- so Marx-Biograph Franz Mehring.
Bürgerschreck Stirner war der Initiator einer Bewegung, die unter dem Stichwort »Individual-Anarchismus« bis in die heutige Zeit Typen inspiriert wie die amerikanischen Beatniks, die holländischen Provos, die deutschen Gammler und die russischen Stiljagi.
Der spätere Faschist Mussolini feierte 1919 Stirners extremen Individualismus, »denn es gibt keine andere menschliche Realität als das Individuum«, und er klagte schließlich: »Warum kann Stirner nicht wieder in Mode kommen?«
Literaten wie der Norweger Henrik Ibsen und der Franzose André Gide gaben Figuren ihrer Werke, jener dem »Peer Gynt«, dieser seinem »Immoralisten«, stirnerianische Züge.
Eine neue Variante in Stirners Gammler-Philosophie entdeckte jetzt Hans G. Helms, dilettierender Philosoph, Rundfunkautor und Stückeschreiber ("Golem
eine Polemik für neun Vokalsolisten gegen Martin Heidegger")**. Nach Helms nämlich hat die Ideologie der bundesrepublikanischen Mittelklasse »ihre früheste konsequente Formulierung in Max Stirners Werk gefunden«. In der Tat fehlten auch der Persönlichkeit Stirners keineswegs Charakterzüge eines Kleinbürgers -- freilich eines wildgewordenen.
Philosoph Schmidt alias Stirner -- Freunde hatten ihm wegen seiner hohen Stirn den Spitznamen Stirner * Zeichnung von Friedrich Engels.
** Hans G. Helms: »Die Ideologie der anonymen Gesellschaft«. Verlag M. DuMont Schauberg, Köln; 620 Seiten; 29 Mark.
gegeben -- wurde 1806 als Sohn eines Bayreuther Instrumentenmachers geboren. Er studierte an den Universitäten Berlin, Erlangen und Königsberg Theologie und Philologie.
Wegen mangelnder Kenntnisse nur mit Einschränkungen von der preußischen Schulverwaltung zum Lehramt zugelassen, unterrichtete er am exklusiven Berliner Mädchen-Pensionat der Madame Gropius die höheren Töchter der Preußen-Metropole in den Künsten und Wissenschaften.
Erst das Scheitern im Beruf katapultierte den Pauker in die Gammler-Vita und -Philosophie.
Gehänselt von seinen Lehrer-Kollegen und den höheren Preußen-Töchtern, rächte er sich, indem er in der Rippelschen Weinstube, beflügelt vom Alkohol, die Prüderie seiner Schülerinnen verhöhnte: »Eine freie Grisette gegen tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern«.
An den Schanktischen des Lokals in der Friedrichstraße mischten sich Stirners sauertöpfische Quengeleien mit den Bravaden des geschaßten Theologie-Dozenten Bruno Bauer gegen Gott, Obrigkeit und Gesellschaft.
Stets zu Jux und Krawall aufgelegt, zogen Stirner und seine Kumpane, wenn ihnen Restaurateur Hippel keinen Kredit mehr gab, randalierend durch die Straßen.
Als Stirner sein »Liebchen« Marie Dähnhardt heiratete, schockierte Freund Bauer den Pfarrer in der Kirche, indem er die Messing-Ringe seiner gehäkelten Geldbörse als Trauringe präsentierte: Dazu seien sie gerade gut genug.
Der Schinderei bei Madame Gropius überdrüssig, versuchte Stirner, unterstützt von seinen Stammtischbrüdern, einen Milchhandel aufzuziehen. Er machte jedoch bald Bankrott. Als Journalist hielt er sich mühselig über Wasser und bei Wein.
Die bürgerliche Ordnung, an der er gescheitert war, galt ihm nun als ein System der Heuchelei. 1845 provozierte Stirner in »Der Einzige und sein Eigentum« die Gesellschaft seiner Zeit mit der Lehre, daß jede Macht, die über den einzelnen Menschen gesetzt, Knechtschaft sei. Recht, Sittlichkeit, Gesellschaft und Staat erklärte er kategorisch für »Sparren« und »Spuk« und postulierte dafür die Souveränität und »Einzigkeit des Ich«.
Den Idealen des Bürgertums, geprägt von den Menschenbildern der Klassik und des Deutschen Idealismus, konfrontierte »der halbverhungerte Schulmeister Caspar Schmidt« seine »Spottgeburt von Dreck und Feuer« (Mehring), den Menschen, der in schrankenloser Konkurrenz nur sich selbst und seinem Genuß lebt und, so der Oxforder Anarchisten-Forscher James Joll, »der Gesellschaft und allen früheren Philosophien den Kampf ansagt"*.
Wie die konservativen und liberalen Ideale des Bürgertums, so verwarf er auch den marxistischen Sozialismus, dessen Zukunft er prophetisch beschrieb, bevor Marx die »Diktatur des Proletariats« verkündete, als Gesellschaftsform, in der die Unterdrückung des Einzelwillens vollkommen sein würde.
Den Stalinismus sah er voraus: »Vor dem höchsten Gebieter, dem alleinigen Befehlshaber« im Sozialismus, werden
* James Joll: »Die Anarchisten«. Propyläen Verlag, Berlin; 316 Seiken; 38 Mark. alle gleich sein, »gleiche Personen, das heißt Null«.
Statt Liberalismus des Bürgertums und Diktatur des Proletariats verkündete Philosoph Stirner den Egoismus als Weltanschauung. Er warb für »Vereine der Egoisten« -- denen sich »das Ich« anschließen möge, wenn »es seine egoistischen Interessen erheischen«.
In Stirners aus Enttäuschung geborener Egoismus-Weltanschauung sieht Autor Helms -- offenkundig keineswegs zu Unrecht -- das wesentliche Element einer »Ideologie des Mittelstandes": den Opportunismus des zu Halbbildung gelangten Kleinbürgers.
Statt »Klassensolidarität«, wie Marx und Engels für das Proletariat, empfahl Stirner der Mittelklasse, ihre Ellenbogen rücksichtslos zu gebrauchen: Konkurrenzkampf bis aufs Messer«.
Stirner habe einen extremen Opportunismus propagiert, indem er seine Zeitgenossen aufforderte, »statt politisch in die gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen, sich unpolitisch im Bestehenden zu arrangieren und jeweils jener Fraktion ihr Votum zu geben, die ihre partikularen Interessen am besten zu fördern verspreche«.
Bürgerliche Züge am Anarchisten Stirner entdeckte denn auch Marxist Ernst Bloch: Er war »mehr ein wilder Oberlehrer als ein Löwe«.