Zur Ausgabe
Artikel 74 / 87

GESELLSCHAFT / NOBEL-SYMPOSIUM Sprüche der Weisen

aus DER SPIEGEL 39/1969

Guten Morgen, Supergehirne«, jubelte das Stockholmer »Svenska Dagbladet«. Endlich sollten die Leser erfahren, wie die Menschheit überleben könne.

Drei Dutzend prominente Forscher waren letzte Woche in der schwedischen Hauptstadt zum 14. Nobel-Symposium versammelt. Auf den verschiedensten Fachgebieten -- Physik, Chemie, Biologie, Recht oder Volkswirtschaft -- hatten sie Ihre Verdienste erworben. Nun sollten sie erzählen, welche Gedanken sie sich über die Zukunft der ganzen Menschheit gemacht haben.

Von den großen menschheitsbedrohenden Problemen -- vom Guerillakrieg in Vietnam, Laos oder Lateinamerika; von den zunehmenden technischen Möglichkeiten zur atomaren und chemisch-biologischen Kriegführung, die sich mehr und mehr auch kleinere Länder zunutze machen können; von der globalen Umweltverschmutzung, der Verseuchung von Luft, Flüssen und Meeren mit Abfallstoffen und Insektengiften; von Bevölkerungslawine, Welternährung oder Automation -- wurde kaum gesprochen.

Mit derlei Detailfragen mochten sich die philosophierenden Gelehrten nicht abgeben. Viel lieber ergründeten die Weisen das Wesen des Menschen, aus dem der gute oder böse Ablauf der Geschichte entspringt. Der kanadische Psychologe Professor Otto Klineberg etwa verkündete in einem der Hauptvorträge des Kongresses die Erkenntnis, Kriege entstünden, weil die Leute einander böse sind.

Der Psychologie-Professor wußte auch ein Gegenrezept: Man dämpfe die Aggressivität der Menschen und mindere so die Kriegsgefahr. Als Methode, die Menschen milder zu stimmen, empfahl er »objektiver geschriebene Schulbücher« und »Förderung des Massentourismus«.

Am Freitag letzter Woche war es dann der Seewiesener Tierverhaltensforscher Konrad Lorenz ("Das sogenannte Böse"), der vor einem unmittelbar bevorstehenden Desaster warnte -- dem Untergang des Abendlandes. Die Ursache der nahenden Kulturkatastrophe sieht der Wissenschaftler in einem Phänomen, das deutschen Professoren besonders vertraut ist: in der Revolte der Jugend.

Zwar gestand Lorenz in Stockholm ein, daß die jungen Leute heute allen Grund zur Kritik hätten, denn »ohne Ausnahme« hängen die »etablierten kulturellen Gruppen der zivilisierten Welt überholten und stupiden Dogmen und Verhaltensnormen« an. Doch derart einleuchtende Gründe berechtigen, so dozierte Lorenz, keineswegs zu revolutionärem Verhalten.

Der Seewiesener Verhaltensforscher schließt -- aus jahrelanger Beobachtung von Graugänsen, Haushühnern, Fischschwärmen und vielen anderen Tiergruppen -, daß soziales Leben nur dann möglich ist, wenn sich alle dem Boß, dem »Alpha-Tier« unterordnen.

Nur durch solche Unterwerfung gewinne auch in der menschlichen Gesellschaft der Vater jenes Maß an Autorität, das er braucht, um die »traditionellen Riten und Normen des Sozialverhaltens« seinen Kindern weiterzugeben. Da diese Autorität heute fehlt, sei »unsere Kultur mit sofortiger Auslöschung« bedroht.

Damit lieferte Amateur-Soziologe Lorenz endlich auch eine wissenschaftlich verbrämte Rechtfertigung für das Grund-Bedürfnis aller beleidigten Autoritäten: hart durchzugreifen, um ihr verletztes Selbstgefühl zu versöhnen.

Der erfahrene Pädagoge übersieht nicht, daß solche altfränkische Erziehung unvermeidlich zu Aggressionen bei den Zöglingen führen muß. Darin jedoch, glaubt Lorenz, läge geradezu sozialer Nutzen: Solche Aggressionen haben sich früher nicht gegen die gefürchteten Autoritäten, sondern gegen Fremdgruppen gerichtet -- und damit wesentlich zum Zusammenhalt der eigenen Gruppe beigetragen.

Während der Zoologe Lorenz sich nach der Welt sehnt, wie sie war, versuchte der politische Publizist Arthur Koestler zu ergründen, warum eben diese Welt aus den Fugen geriet. Koestlers in Stockholm vorgetragene Diagnose: Nicht Autoritätsverfall führe zur Katastrophe, ebensowenig wie die Aggressivität der Individuen. Lebensgefährlich sei vielmehr die »exzessive Loyalität zur Gruppe« und zu den »darin verkörperten Glaubens-Systemen«, die allein Kriege möglich mache.

Die Indoktrinierung der Menschen zu willigen Kriegern wiederum sei nicht möglich ohne Sprache, deren Klischees und Phrasen die Menschen für Vorurteile und Kollektiv-Beschuldigungen ebenso anfällig machen wie für Infektionskrankheiten.

»Ohne Sprache gäbe es keine Poesie«, so formulierte Koestler, »aber auch keine Kriege.« Die Poesie ließe sich retten, und der Krieg ließe sich verhindern, wenn die Menschheit gegen Manipulation durch sprachliche Formeln immunisiert würde. Koestler: »Und dies scheint kein unmögliches Ziel zu sein.«

Zur Ausgabe
Artikel 74 / 87
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren