AUTOMOBILE Spuk im Polster
Von Alaska bis Arizona erregen sich Amerikas Autofahrer über »das verdammte Ding«, wie es einhellig genannt wird -- »mehr noch als über die gestiegenen Benzin- und Autopreise« (so der Automobilkritiker Ernst Behrendt, New York). »Die Proteste der Kunden«, jammerte ein Händler des Automobilkonzerns General Motors, »verfolgen mich bis in den Schlaf.« Der Protest aus der Kundschaft richtet sich gegen »die mieseste Neuerung des Jahres« (so im vergangenen Monat ein Verkaufsmanager der Firma Chrysler).
Was es mit dem »Ding« wirklich auf sich hatte, suchten jüngst Reporter der »New York Times« zu ergründen: Sie befragten Autofahrer und stießen auf eine massive Trotzhaltung gegenüber einer gesetzlich verfügten, neuartigen Einbau-Apparatur, die einer der Befragten bissig als »Big Brotherismus« abkanzelte.
Denn gegängelt vom »Großen Bruder«, wie ihn der Schriftsteller Orwell schon vor 24 Jahren in seinem düsteren Zukunftsgemälde »1984« beschrieb, fühlen sich viele Autofahrer durch eine neue US-Sicherheitsnorm: Obwohl kein gesetzlicher Anschnallzwang besteht, mußte in Neuwagen des Modelljahrgangs 1974 vom 15. August an eine besondere Stromschaltungs-Apparatur eingebaut werden, die gleichwohl zum Anlegen der Sicherheitsgurte nötigen soll.
Fahrer und Beifahrer müssen ein vorgeschriebenes Bedienungs-Ritual vollführen, ehe sich der Motor starten läßt: Platz nehmen, Türen schließen und Sicherheitsgurtschlösser einrasten lassen. Erst nachdem Kontaktplatten, die in den Vordersitzen verborgen sind -sie reagieren auf das Gewicht der Wagenpassagiere -, und Sensoren in den Gurtschlössern ihr O. K. signalisiert haben, gibt ein von der Industrie als »Anschlußklemme Nr. 50« genormter Zwischenschalter den Zündstrom frei
Eifrigster Befürworter des Gurtzwangs durch das neue »Interlock-System« war Amerikas unerbittlicher Automobil-Kritiker, der Verbraucheranwalt Ralph Nader. Sein Argument klingt einleuchtend: Zumindest jeder fünfte Amerikaner, der im vergangenen Jahr den Autofahrertod erlitt, hätte mit Sicherheitsgurten überleben können.
Dennoch, so fanden die bei Käufern, Mietwagenzentralen und Autohändlern herumfragenden »New York Times«-Reporter heraus, empfinden die meisten Autofahrer das ausgeklügelte Schutzsystem als eine Art Zwangsjacke.
»Herumkommandiert« und »von unsichtbaren Fühlern abgetastet«, so als seien ihre Wagen »in ein Watergate auf Rädern« umgemodelt worden« fühlten sich manche der Befragten in ihrer persönlichen Entscheidungsfreiheit eingeengt. Etliche suchten nach einem Fluchtweg und stellten den Reportern eine Gegenfrage: »Wie setzt man das verdammte Ding außer Funktion?«
Ganz einfach: »Die Leute«, verriet Daimler-Benz-Entwicklungschef Hans Scherenberg, »schnallen ihre Gurte hinter sich zusammen«, könnten sodann »anlassen und fahren«. Der eigentliche Zweck des Schutzsystems komme dabei nur dem rollenden Möbel zugute: »Angeschnallt ist nur der Sitz.«
Um derartige Tricks zu erschweren, hatten die Ingenieure der Washingtoner Sicherheitsbehörde den Autowerken bis zuletzt immer wieder zusätzliche Auf lagen erteilt. Noch im Juni, als das Volkswagenwerk, größter Importeur auf dem US-Markt, bereits mit der Produktion von Interlock-Ausrüstungen begonnen hatte, griff die Behörde ein letztes Mal in die Logik des Systems ein. »Wir mußten«, so ein VW-Ingenieur, »50 000 von den Dingern wegschmeißen.«
Trotzdem ließen sich weder Verdruß noch Mißbrauch ausschließen- Zwar sollen Gurt-Gegner, die etwa nach dem Anspringen des Motors listig aus den Halteriemen schlüpfen, durch ein rotes Flackerlicht und einen unangenehmen Summton unablässig an ihre Missetat erinnert werden -- doch ein Abklemmen der richtigen Kabel verscheucht die Warner für alle Zeit.
Überdies läßt sich der Motor auch dann ohne angelegte Gurte starten, nachdem der Fahrer einen eigens installierten Störungsknopf gedrückt hat. Die Prozedur ist freilich umständlich: Fahrer und Beifahrer müssen aussteigen, die Motorhaube öffnen, den unter ihr verborgenen Knopf drücken, einsteigen, starten -- und den Vorgang für jeden weiteren »Not-Start« wiederholen, ohne (bei geöffneten »Gurtschlössern) der Pein des Rotlichts und des Summers zu entgehen. Der Hilfsknopf wird zwangsläufig oft benutzt: Drei Viertel aller Interlock-Systeme, so fand ein Autotester-Team bei einem Massentest neuer Detroiter Modelle, waren störanfällig. Ein VW-Techniker: »Wir fragen uns nur, wie so was auch nach fünf Jahren noch funktionieren soll.«
Wahrend sicherheitsbewußte Hausfrauen und jugendliche Fahrer die Gurt-Automatik durchweg ohne Widerspruch anlegten, sträubten sich vor allem Männer, unter Hinweis auf Genickschmerzen und zerknitterte Kleidung. Laienhaft ausgeführte Versuche, die Zündung vom Gurtsystem zu trennen, erbrachten nicht selten neuen Ärger: Die Fahrer fanden ihre Wagen morgens mit leerer Batterie vor.
An den VW-Fließbändern, wo die US-Käfer in Abständen von 15 Sekunden anrollen, haben geplagte Verlade-Fahrer inzwischen den allerneuesten Trick entdeckt: »Gurtschloß vom Beifahrersitz mit dem Gegenstück des Fahrergurtes koppeln und der Spuk ist vorbei.«
In Amerika aber haben Kontaktplatten, Flackerlicht und Summer, den Gurt-Gegner »Ralph Naders Klapperschlange« nennen, zumindest bei technisch weniger geschickten Autofahrern offenbar Resignation bewirkt: Sie fügen sich den vertrackten Gurten. Einer der Befragten sagte: »Das beste wird wohl sein, wir tragen sie.«
Das VW-Werk hat indes ein Gurtsystem entwickelt, mit dem zuverlässig Schutz gewährt, der Verdruß des »Interlock-Systems« aber vermieden wird: Der Gurt, geführt in Schienen, legt sich beim Schließen der Tür automatisch an. 50 so ausgerüstete Käfer sind zu einem einjährigen Test gestartet.