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LITERATUR Spuk mit Galgenstrick

aus DER SPIEGEL 3/2006

Fast jede Familienhölle bietet gruseligen und amüsanten Erzählstoff, die Geheimnisse der tschechischen Großfamilie Jordan aber sind besonders finster. Der etwa 40-jährige Held dieses Romans war als sechsjähriger Knabe Augenzeuge einer Hinrichtung im Familienkreis. Sein des Kindermordes schuldiger Onkel wurde in einer Geheimsitzung der Sippschaft stranguliert. Das hat den Buben Ales offenbar so mitgenommen, dass er auch als erwachsener Mann in meist heiterer Wirrköpfigkeit durch die tschechische Wirklichkeit taumelt - nie ganz imstande, Halluziniertes und Erlebtes zu unterscheiden, sicher nur im Befund, dass er dabei ist, »mich in etwas zu verstricken, das mir absurd und wahrscheinlich auch wahnsinnig vorkam«. Jirí Kratochvil, 66 ("Unsterbliche Geschichte"), schildert im Roman »Der traurige Gott« das Leben im postkommunistischen Tschechien als Schmierenkomödie. Die ist bitter und lustig, und sie wäre vielleicht noch ein bisschen ergreifender, wenn der Autor seinen Helden nicht stets als allwissender Puppenspieler mit Lust an Fäkalspäßen spazieren führen würde: Immer wenn er sich schlecht fühlt, muss der arme Ales seinen Darm entleeren. So beschwört Kratochvil nur die Dämonen einer Gesellschaft, in der ehemalige Mitläufer der Diktatur rasende Opportunisten geblieben sind und einstmals fanatische Kommissköpfe plötzlich den Kapitalismus feiern. Eine Welt, in der »die Dunkelheit dergestalt« ist, »dass uns Gott mit ausgehöhlten Augen betrachtet«. Aber zum Glück gibt es auch im Dunkeln viel zu lachen.

Jirí Kratochvil: »Der traurige Gott«. Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedtke und Milka Vagadayová. Ammann Verlag, Zürich; 192 Seiten; 18,90 Euro.

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