OPER Stachel dem Todes
»Vae, vae, vae«, kreischen und keuchen neun haarige Weiber in einer Riesenesche. »Upote mepote mepu medepote«, brüllen neun glatzköpfige Einsiedler aus dem Wüstensand. »Verloren, verlassen, das ist das Ende«, zetern »die letzten Menschen":
In Salzburg, der heiteren Stadt, tagt das Jüngste Gericht -- lateinisch, griechisch, deutsch und vor allem laut.
Angst und Schrecken verbreitet der bajuwarische Komponist Carl Orff, 78. Für sein neuestes Bühnenstück »De temporum fine comoedia« ("Das Spiel vom Ende der Zeiten") -- Salzburger Weltpremiere: Montag dieser Woche -- ist der Generals-Sohn und Astronomen-Enkel Orff wieder mal auf stampfenden Versfüßen in den »Urgrund des Magischen« (Orff-Deuter Franz Willnauer) gestiegen, und da unten ist der Teufel los.
Doch bei seinem mystischen Mühen, »die Seelenschichten unterhalb des Bewußtseins« (Orff) freizulegen, hat Orff ein nur Altphilologen verständliches Inferno arrangiert.
Schon seit Jahrzehnten auf Antikes ("Prometheus"), Mittelhochdeutsches ("Carmina burana") und bayerische Mundart ("Weihnachtsspiel") versessen. griff er diesmal auf die »Sibyllinischen Weissagungen«, orphischen Hymnen und Erkenntnisse des Kirchenlehrers Origenes (185 bis 253) zurück, läßt die Texte größtenteils im Original skandieren und lehrt so das Gruseln auf babylonisch.
Neun Sibyllinen wehklagen, den »Stachel des Todes« vor Augen, vom Ende mit Schrecken: »Gottlose foltert das Feuer für ewig.« Aber neun Anachoreten halten die menschlichen Horror-Visionen für »Lug und Trug« und erbitten, den Blick auf ein riesiges Teleskop gerichtet, Hilfe von oben: »Gott, schenk uns Wahrsagung, schenk uns den Traum.«
Gefleht, erhört. Während noch die in schwarze Kittel gehüllten »letzten Menschen« umherirren. die Regisseur August Everding durch weiße Strümpfe über dem Kopf gesichtslos gemacht hat, steigt -- eine Art Happy-End
Lucifer als »monströses Viech« (Everding) vom Bühnenhimmel, läßt Federn und Maske fallen und betet fromm und brav: »Pater peccavi« -- er sagt's, weil, so Orff, »ich nicht glaube, daß Teufel singen«.
Für diese Show vom Finale der Erde hat sich Orff in der Unterwelt echten Höllenlärm ausgedacht: Zur Apokalypse werden Tam-Tam und Tomtom, Litophon, Xylophon und Metallophon, japanische Tempelglocken, ägyptische Darabukkas, ein javanisches Angklung und noch rund 80 andere Schlaginstrumente eingesetzt. 26 Mann sind aufgeboten, diese Batterie in Betrieb zu setzen.
Sie stehen nicht allein. Auch Holz und Blech, acht Kontrabässe, Harfen, Klavier, Orgel, Windmaschine und drei Riesenchöre nebst vom vorproduzierten Magnetophonband eingespielten »Fernchöre« wirken mit.
Das alles für eine gut einstündige Etüde in Monotonie. Denn außer bei ein paar altmodischen Glissandi und chromatischen Tontrauben wird in Hades und Hölle nur mit motorischen Rhythmen und eintönigen Litaneien georfft; seit Gustav Mahler in seiner 8. Symphonie Verse aus Goethes »Faust II« vertont hat, so glaubt jedenfalls Orff-Fan Willnauer, »ist Ähnliches mit den Mitteln der Musik nicht mehr versucht worden«.
Den Württembergischen Staatstheatern war dieser Versuch zu riskant gewesen. Die Stuttgarter Bühne, sonst gut auf Orff eingespielt, hatte die Einstudierung des Endzeit-Spiels wegen des monströsen Aufwandes abgelehnt. Auf Kürzungen, die der Regisseur Günther Rennert vorschlug, ließ sich der Komponist nicht ein. Doch Herbert von Karajan, dem Herren von Salzburg, war nichts zuviel:
Nachdem der WDR Köln ihm Chor und Orchester gestellt und ihm außerdem Schlagzeuger aus Nordrhein-Westfalen, Berlin, Nürnberg und München zusammengetrommelt hatte, setzte er das Stück auf den Salzburger Spielplan. Noch vor der Premiere gab er ihm den Rang eines profitablen Gesamtkunstwerks: Letzten Monat produzierte er das »Spiel vom Ende der Zeiten« in Leverkusen für die Schallplatte.
Orff-Schüler und -Dirigent Gerhard Leassen, dem der kränkelnde Komponist die Vorproben anvertraute, hat für diese Platten auch schon eine bislang wohl Orff-ferne Käuferschaft ausgemacht:
»Das ist ein Werk religiöser Ekstase«, mutmaßt er, »das sogar von den Jesus people akzeptiert werden müßte.«