Zur Ausgabe
Artikel 69 / 100

Städtebilder im mobilen Wartesaal

SPIEGEL-Redakteur Jürgen Hohmeyer über den »Modellbau« Künstler Reinhard Mucha *
Von Jürgen Hohmeyer
aus DER SPIEGEL 6/1987

Auf geht''s, rund geht''s. Beziehungsvoll zitiert der Düsseldorfer Künstler Reinhard Mucha aus einem berühmten Buch über das Barock und dessen »dialektisches Wagnis": Von einem »Zusammenhang mit dem Jahrmarkt« ist da beim Kunsthistoriker Wilhelm Hausenstein, die Rede, und es wird metaphorisch behauptet, eine barocke Kirche komme nur zur Wirkung, »wenn sie Karussell gewesen ist - einen Augenblick zum wenigsten Karussell«.

Solche Augenblicke setzt Mucha, 36, auch selbst in Szene. Er tut das nicht gerade überschwenglich-barock und nicht in Marmor oder Stuck, sondern unter den Konditionen und mit den Materialien des modernen Kunstbetriebs. Wie ein fahrender Schausteller, anpassungsfähig »den Bedingungen der Situation immer überlegen« (Hausenstein über das Barock), schlägt er mal hier, mal dort, einmal so und dann wieder anders seltsame Lunapark-Gerüste mit witzig-bedeutungsschwangeren Titeln auf.

»Die Letzten werden die Letzten sein«, so hieß zum Beispiel eine noch relativ unscheinbare Ringelspiel-Konstruktion, die Mucha 1982 in der West-Berliner Nationalgalerie zusammensetzte. Drei Jahre später errichtete er dann beim Stuttgarter Kunstverein ein mächtiges Riesenrad und stellte eine Art Steilwandfahrer-Trommel daneben: »Das Figur-Grund-Problem in der Architektur des Barock«. Und jetzt hält eine Mucha-Ausstellung in der Kunsthalle Basel als End- und Höhepunkt die sinnverwirrend leuchtende und spiegelnde Vision eines Kettenkarussells parat. Fast möchte man glauben, es sei in rasender Rotation begriffen. Aber wie sollte wohl ein Teilnehmer an dieser Kreisbewegung den paradoxen Titel-Hinweis beherzigen und die »Kasse beim Fahrer« aufsuchen können?

So überzeugend ist die Karussell-Form nachgeahmt, so suggestiv der Rummelplatz-Glanz beschworen, daß erst beim zweiten Blick auffällt, aus welch banalen Werkstücken die Illusion gemacht ist und wie wenig Konstrukteur/Kondukteur Mucha das eigentlich verheimlicht.

Simple Bürotische, zweistöckig aufgetürmt, bilden den dreizehneckigen Kernbau. Trittleitern aus Leichtmetall markieren ein Gestänge, an dessen äußeren Enden die halsbrecherisch durcheinandergewirbelten Sitze - tatsächlich stapel- und zusammenklappbare Serienstühle - montiert sind.

Einsichtig ist auch der Zusammenhalt des verwegenen Gebildes: Drahtseile, Schraubzwingen und Klebebänder demonstrieren eine hobbymäßig-gekonnte, doch jedenfalls provisorische Befestigung.

Und siehe da: Beim Blick in das Karussell-Fundament stellt sich heraus, daß der Bau auf primitiven, im Museumsalltag üblichen Wägelchen, sogenannten

Transport-»Hunden«, ruht - bereit, jederzeit anzurollen, sobald nur ein großer Brems-Klotz entfernt würde, der das System an einer Stelle blockiert.

Der Klotz hat ein Gegenstück: einen ähnlichen, aber verglasten Kasten an der Wand, der, die richtige Betrachterperspektive vorausgesetzt, das durch Neonröhren illuminierte Ganze als Spiegel-Bild wiedergibt. Verspiegelt ist außerdem der Karussell-Sockel, und die gläserne Raumdecke wirkt als zusätzliche Reflexions-Ebene; ein optisches Verwirrspiel von Hier und Dort, Oben und Unten ist programmiert. Auf die Spitze getrieben wird es beiläufig dadurch, daß eine zweite Mucha-Ausstellung, die gleichzeitig in der Kunsthalle Bern gestartet ist, insgesamt denselben Titel »Kasse beim Fahrer« trägt wie der Basler Karussell-Bau. Die Schau in Basel firmiert dagegen als »Nordausgang«. _(In Basel bis 1. März, in Bern bis 15. ) _(März. Katalogheft 20 Seiten; 6 Franken. )

Nord oder Not: Die kuriose Schweizer Doppelveranstaltung geht in Wahrheit auf die Sperrigkeit von Mucha-Werken, für die ein Haus zu eng gewesen wäre, und auf parallelen Aussteller-Ehrgeiz an beiden Plätzen zurück. Sie kann aber zwanglos zur sinnreichen Pointe erklärt werden.

Denn so demonstrativ der Künstler sein Mobiliar am jeweiligen Standort festmacht, so unverkennbar ist zugleich doch eben die Mobilität sein Thema - ein permanenter Umzug von Stadt zu Stadt, bei dem Mucha mancherlei Erinnerungen mitschleppt.

Das kann buchstäblich gelten. So war voriges Frühjahr beim Düsseldorfer Galeristen Konrad Fischer eine Mucha-Installation namens »Wasserstandsmeldung« mit aquarienähnlichen Vitrinen zu sehen. Für eine repräsentative Mucha-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou wurde dann der Düsseldorfer Galerieraum mit Stellwänden nachgebaut. Nunmehr in Bern, wo die »Wasserstandsmeldung« einen geräumigen Saal einnimmt, liegen die Pariser Stellwände aufgestapelt als neuer Werk-Bestandteil dabei.

Mucha, schon die Tournee-Route zeigt es an, ist dabei, seinen Weg zu machen. Er ist national wie international gefragt, wird zu Übersichtsausstellungen nach Toronto und Sydney ebenso eingeladen wie zur diesjährigen Kasseler Documenta. Und mit zusammen 39 Werken demonstriert die Basel Berner Doppelschau jetzt noch ausgiebiger als zuvor Paris, wie begründet solche Resonanz ist: Die Objekte entfalten eine eigenwillige, irritierende Wirkung von formaler Genauigkeit und mehrschichtigen Bedeutungsassoziationen und sind auch mit den - dekorativeren - Ideenkulissen anderer Düsseldorfer »Modellbauer« aus Muchas Generation keineswegs zu verwechseln.

Mucha schafft Massenware aus dem Hobbymarkt sowie Museumsinventar, außerdem altertümliche Möbelstücke von individuellem Erinnerungswert heran und mutet diesem Material seltsame Metamorphosen zu. Umgedrehte Gartenhäuschen werden zu aneinandergekoppelten Lokomotiven, Schränke zu Waggons, Waschbecken zu Orchestermuscheln für fiktive Konzerte und Tische, Leitern, Stühle eben zum Karussell.

Das freilich hat zugleich Aspekte von Schienenfahrzeug ("Kasse beim Fahrer") und von Weltraumrakete. Und wenn der Künstler bei seiner kippligen Montagearbeit »mit blanker Faust in die Fratze der Schwerkraft« greift, dann denkt er auch an Abheben und Absturz ("Runter kommen sie alle") in übertragenem Sinn. Alles, so warnt nebenbei der Werktitel, hat seinen Preis. Das Karussell gerät keineswegs zur glatt entschlüsselbaren Allegorie, wohl aber zur bildkräftigen Anspielung auf Hybris und Hektik.

Fasziniert vom riskanten Job etwa der Steilwandfahrer ist Mucha seit je gewesen, ebenso von der Präzision der Eisenbahn. Das Kunstklima hingegen stieß ihn erst einmal ab, als er sich 1972 an der Düsseldorfer Akademie einschrieb: Gerade feuerte der Wissenschaftsminister Johannes Rau den unbotmäßigen Professor Joseph Beuys, und das Haus wimmelte von aufgebrachten »Weltverbesserern in Lodenmänteln«. Mucha fühlte sich deplaciert, fing lieber eine Schmiedelehre an und figurierte im »Stern« als Kronzeuge eines Abiturienten-Trends zum »Handfesteren": »Schon jetzt verdiene ich 800 Mark.«

Mit Gesellenbrief, doch ohne Arbeitsplatz, sah der junge Schmied die Lage wieder anders. Er kehrte zur Akademie zurück, im Bewußtsein, ein intensiveres Verhältnis zu den wirklichen Dingen bekommen zu haben. Doch was Mucha seither macht, scheint ebensosehr von den Gedankenspielen der Konzeptkünstler wie auch vom Geist des Joseph Beuys angeweht zu sein.

Beuys-Erinnerungen weckt auf den ersten Blick ein jetzt in Bern installiertes Mucha-Hauptwerk mit dem Titel »Wartesaal": Fahrbare Metallregale mit lauter Schubfächern in voller Breite gemahnen

an jene Filzschichtungen des Meisters, mit denen er energiespeichernde Batterien zu symbolisieren pflegte.

Auch Muchas Regale sind ein Depot, aber eines der gedachten geographischen und auch historischen Bezüge. 242 sechsbuchstabige Namen von Bahnstationen auf vorkriegsdeutschem Gebiet hat der Künstler aus einem Reichsbahn-Tarifverzeichnis von 1943 exzerpiert und säuberlich mit Lackfarbe auf einheitlich große Tafeln übertragen. Bahnhöfe, so zitiert er Marcel Proust, machten nicht eigentlich einen Teil der jeweiligen Stadt aus, enthielten aber deren »Wesen« insofern, »als sie auf einer Signaltafel ihren Namen tragen, in reiner, schematischer Form«.

Als komprimierte, auf den Begriff gebrachte Orts-Vorstellungen bilden die Schilder in ihren Schubladen einen beliebig abrufbaren Fundus. Zwischen ihnen spannt sich, geradezu ein Stück konzeptueller Land Art, ein Netz imaginärer Verbindungslinien, mögen die wirklichen Eisenbahnstrecken vielleicht auch längst stillgelegt worden sein.

Der Schilder-Speicher fordert die Phantasie des Ausstellungsbesuchers heraus. Man könnte ihn als Sortiment von Fahrkarten verstehen, jedenfalls ist er aber- professionellen Graphikschränken ähnlich - auch ein Magazin von Schrift-, ja Städtebildern, die hier auf Betrachtung, Verkauf und Abtransport warten. Schließlich drängt sich die Vorstellung einer Bibliothek von Reiseliteratur auf, und richtig scheint da ein Leseplatz mit Tisch und Lampe auf den Benutzer zu warten.

Von Ausstellungsstation zu Ausstellungsstation, der er damit je eine eigene »Bedeutung« verleiht, zieht Mucha ein anderes Schild hervor und präsentiert es auf dem Tisch - mal mehr mit Blick auf den realen Ort, der hinter dem Namen steckt, mal mehr einem beiläufigen Wortsinn oder -klang auf der Spur.

Auch mit anderen Arbeiten ruft Mucha Stationen aus und holt die so in seinen Kunstbereich: ein banales »Bonn« oder aber, denkbarer Schauplatz für ein Nibelungendrama, »Hagen-Vorhalle«. Die Wandvitrinen der »Wasserstandsmeldung« tragen gleichfalls Ortsnamen wie zum Beispiel »Feucht«.

Bei der »Wartesaal«-Premiere, 1982 in der Stuttgarter Galerie Hetzler, stellte der Künstler »Siegen« heraus - fast ein Imperativ. Er hätte auch »Singen« oder »Werden« ("Wyhlen«, »Golzen«?) kommandieren können.

Im Centre Pompidou war dann »Torgau« dran, die Stadt, bei der Preußens Friedrich siegte und sich am Ende des Zweiten Weltkriegs die Alliierten trafen. Und Berner Ausstellungsbesucher sehen sich nach »Oderin« versetzt. Oder in eine andere Stadt? Der »Wartesaal« steht auf Rädern, gleich kann die Reise weitergehen nach »Treysa«, »Kauder« oder »Unheim«. Notausgang beim Fahrer.

In Basel bis 1. März, in Bern bis 15. März. Katalogheft 20 Seiten; 6Franken.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 69 / 100
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren