FILM Starr vor Angst
Er nimmt den Mund gern voll, und er kann es sich leisten: Seit Buster Keaton tot ist, Charlie Chaplin sich vom Film zurückgezogen hat und dem Franzosen Jacques Tati immer mehr der Spaß vergeht, zählt international nur noch ein Name, wenn von Kino-Ulk die Rede ist -- Jerry Lewis.
Dieser »große jüdische Künstler« (Lewis über Lewis), dieses »nur der Atomenergie, dem Mondschuß« den Herztransplantationen und den Hippies vergleichbare Phänomen des 20. Jahrhunderts« (Lewis-Pressemitteilung) hat feixend, singend und grimassierend alle Slapstick-Konkurrenten im heiteren Show-Business übertroffen.
Ob er mit Hornbrille und künstlichen Raffzähnen im Fernsehen unsichtbare Symphonie-Orchester dirigiert und sich dabei am Taktstock aufspießt. ob er in Varietés den alten Evergreen »Rock-A-
* Mit Dean Martin in dem Film »Starr vor Angst (1953)
Bye Your Baby« fistelt oder als »Aschenblödel« vom Dienst auf der Leinwand den Damen kiloweise Spaghetti ins Dekolleté schwappt -- stets (und besonders in seiner jetzt auch hierzulande angelaufenen jüngsten Film-Satire »Wo. bitte, geht"s zur Front?") erweist sich seine Komik als originell, hintersinnig und artistisch virtuos.
»Slapstick heißt Training«. sagt der 1,82 Meter große, 150 Pfund schwere Film-Clown, Fernseh-Witzbold« Drehbuchautor, Produzent, Regisseur, Pop-Sänger und Film-Dozent aus Newark in New Jersey: »Man muß sich so schnell bewegen wie der Blitz.«
Daran hält sich Lewis, 45. der mit fünf erstmals in New York als Schlagersänger aufgetreten ist, noch nach nunmehr 40 Film- und Bühnenjahren: Anfang April beispielsweise, vor seinem ersten Gastspiel im Pariser »Olympia«. probte er ("Mir ging das plötzlich so schwer von der Hand") stundenlang die Überreichung einer Blume.
Diese Perfektion hat ihre Wirkung aufs Publikum, dessen Begeisterung in Paris den Künstler zu Tränen rührte -- und ihren Preis für die Vergnügungs-Industrie. Schon 1959 konnte der Kassen-Füller (Umsatz seiner 40 Groteskfilme: rund 200 Millionen Dollar) bei der Paramount den lukrativsten Star-Vertrag der Filmgeschichte unterschreiben. Er garantierte ihm für 14 Filme in sieben Jahren zehn Millionen Dollar plus 60 Prozent vom Gewinn.
Drei Jahre später bot ihm die Firma ABC für 200 je zweistündige Fernseh-Livesendungen am Wochenende die Rekordsumme von 40 Millionen Dollar an. kündigte dann freilich den Kontrakt schon mit der 13. Folge.
Selbst als Wohltäter meldet der seit 27 Jahren mit einer ehemaligen Schlagersängerin glücklich verheiratete (Sechs Söhne) Gauloise-Raucher und Anti-Alkoholiker gern Superlative: Bei einem letztes Jahr von 64 Stationen gesendeten TV-Benefiz für behinderte Kinder witzelte Jerry Lewis (bürgerlich Joseph Levitch) ohne Unterbrechung 20 Stunden lang vor der Kamera und animierte das Publikum erstmals in der US-Fernsehgeschichte zu Spenden in Höhe von mehr als fünf Millionen Dollar.
Doch das alles ist dem Akkord-Arbeiter, der mit vier Stunden Nachtschlaf auskommt, längst nicht genug. Jetzt will der Spaßmacher, ohne Scherz, das gesamte Filmgeschäft von der Basis aus sanieren »mit dem bemerkenswertesten Beitrag seit der Einführung des Tonfilms« (Lewis).
Mit der Gesellschaft »Network Cinema Corporation« (NCC), die zu diesem Zweck gegründet wurde, plant Lewis neuartige Kino-Ketten. Zunächst in den USA und in Kanada, später auch in Italien, Frankreich und der Bundesrepublik (Verhandlungsbeginn: 1972) sollen intime Vorstadtlichtspielhäuser mit 100, 200 oder maximal 350 Sitzplätzen den großen, teuren City-Filmpalästen die Familien-Kundschaft abjagen.
»Wer kann es sich schon leisten«, argumentiert Lewis, »seinen halben Wochenverdienst für einen Kinobesuch mit der Familie auszugeben?« In seinen Mini-Kinos kostet der Eintritt nur einen Dollar -- Kinder zahlen die Hälfte. Zu diesem Standardpreis bietet Lewis jugendfreie Programme. die von der NCC zentral beschafft und verliehen werden.
In den USA, wo die ersten 25 dieser »Kinos der Zukunft« (Lewis) schon eröffnet wurden, hat das verwegene Projekt sich gut angelassen: Binnen elf Monaten meldeten sich 1700 finanzstarke Interessenten, die ein »Jerry-Lewis-Kino« bauen oder pachten möchten. Lewis selbst träumt sogar schon von »3000. möglicherweise 10 000« amerikanischen Ketten -Kinos.
»Ich will doch meiner Familie etwas vermachen, was sich sehen lassen kann«, so erläutert der Unternehmer seine Initiative, und das ist gewiß nicht gelogen. Denn was Lewis auch unternimmt -- es hat private Motive.
Sein Fleiß etwa, der ihn einem Pressekommuniqué zufolge »von Zeit zu Zeit erschöpft zusammenbrechen« läßt, sein aufwendiger Lebensstil und selbst seine Philanthropie (er soll im Lauf der Jahre über sechs Millionen Dollar verschenkt haben) sind wohl nur als Kompensation bedrückender Kindheits-Erfahrungen zu begreifen.
Lewis, dessen Vater in Nachtklubs sang und dessen Mutter im Radio Klavier spielte, war in beengten Verhältnissen als vernachlässigtes, auf seine Großmutter Sarah fixiertes Künstler-Kind aufgewachsen; seine Mitschüler piesackten ihn, weil er Jude war. Noch heute fürchtet er nichts so sehr wie Armut, Mißerfolg und Einsamkeit, noch heute fühlt er sich zu immer neuen Anstrengungen verpflichtet, um Wohlstand und Beliebtheit zu sichern.
Zwar hat er gelernt, »daß man doch nicht kaufen kann, was man sich wirklich wünscht«, aber gerade das versucht er immer wieder. Um sich zu beweisen, »daß man jemand ist«, erwarb er für 400000 Dollar die 31-Zimmer-Villa des Hollywood-Tycoons Louis B. Mayer in Bel Air (Los Angeles). Er kaufte sich 14 Automobile mit Telephonanschluß, einen Rundfunksender, 100 Paar Schuhe, 100 Armbanduhren (passend zu seinen Manschettenknöpfen), und Smokings schafft er nur in Achter-Serien an: Zur Weiterverwertung dieser Prestige-Jacken hält sich der Künstler ausschließlich solche Hausangestellte, die seiner Konfektionsgröße entsprechen: »Ich habe«, so rühmt er sich, »den elegantesten Milchmann der Welt.«
Gegen die auch von einem jüdischen Minderheiten-Komplex genährte Furcht, sich unbeliebt zu machen, kämpft der Autodidakt, der es nur zwei Jahre auf der High School ausgehalten hat, mit Beschwörungsformeln an der Studiotür ("Treten Sie ein, Sie sind willkommen") und mit Freundschafts-Gaben für seine Mitarbeiter. Bisweilen stärkt auch Kollegen-Lob das unterentwickelte Selbstbewußtsein des Künstlers.
So lud einst der große Chaplin den Konkurrenten zur Audienz. Beim fünfstündigen Plausch rühmte er den Lewis-Film »Hallo Page!« als »genial« und erbat sich -- im Austausch gegen seine »Modernen Zeiten« -- eine Kopie des Werks. Lewis: »Es war das größte Erlebnis meines Lebens. Ich brauchte eine Stunde, ehe ich mein Thank you herausbrachte.«
Dauerhaften Beistand, fast eine Art Mutter-Ersatz, bot dem gehemmten Clown, der sich nachts eine Pistole unters Kissen legt und alle Lichter brennen läßt, ein Partner, mit dem er sich 1946 in Atlantic City anfreundete: der singende Beau Dean Martin.
Sie traten -- bei schnell von 350 auf 5000 Dollar kletternden Wochengagen -- gemeinsam in Nachtklubs« im Fernsehen und unter fünf verschiedenen Regisseuren in 16 Klamauk-Filmen auf. Stets waren ihre Rollen gleich verteilt:
Lewis gab sich auf der Leinwand so unsicher, wie er im Leben wirklich war -- beispielsweise bei jedem Kontakt mit Frauen »Starr vor Angst« (so ein typischer Titel von 1953). Er spielte den zähnebleckenden, zu keinem Erfolg in der herrschenden Leistungsgesellschaft fähigen Trottel. Martin, der noble Weiberheld« paukte ihn mit öligem Charme aus jeder brenzligen Lage heraus. Als Dean Martin seiner undankbaren Samariter-Rolle überdrüssig wurde, kam es zum Streit und -- nach genau zehn Jahren Teamwork -- zur Trennung.
Für Lewis folgte eine von seinen französischen Biographen Jean-Louis Leutrat und Paul Simonci als »formation du personnage« beschriebene Zwischenphase (1957 bis 1959) mit vielen Solo-Auftritten; danach konnte er sein Komiker-Talent so ungezügelt wie nie zuvor entfalten.
Denn ab 1960 ("Hallo Page!") führte Jerry Lewis in seinen Filmen regelmäßig selber Regie und arbeitete, inzwischen auch Produzent, die meisten Drehbücher aus. Nach eigenem Konzept stiftete er nun, kichernd und keuchend, Verwirrung in Damenpensionaten ("Ich bin noch zu haben«, 1961), Drugstores ("Der Ladenhüter«, 1963) und hatte einmal (1967) sogar einen »Froschmann an der Angel«.
Wie gewohnt fiel er von Leitern und Pferden. glitt er auf Bananenschalen und Sahnetorten aus, doch erstmals in diesen, vom Kino-Kenner Lewis oft zu Persiflagen auf erfolgreiche Horror-Hitchcock- oder Kriegsfilm-Vorbilder stilisierten Autorenfilmen hatte der Klamauk einen Sinn: Alle Lewis-Filme wirken nun wie die öffentliche Selbstanalyse eines verzweifelten »Neurotikers« (Lewis über Lewis).
Noch eindeutiger als seine frühen Werke künden neuere Lewis-Lichtspiele vom Scheitern eines Individuums, das es jedem (auch sich selber) recht machen will. Dieser Verzicht auf Kompromisse mit der Umwelt stempelt ihn jedoch von vornherein zum tragischen Außenseiter
zum lebensuntüchtigen, allseits verspotteten Blödian.
Jerry strandet mit jeglicher Masche: Ob er (im Regie-Erstling »Hallo Page!") geduldig den Mund hält, um nirgends anzuecken, oder ob er (im zehn Jahre lang vorbereiteten Haupt- und Lieblingswerk »Der verrückte Professor« von 1962) seine Persönlichkeit ä la »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« in eine gute und eine schlechtere Hälfte aufspaltet, um sich zu behaupten -- stets landet er, einem krampfhaft herbeigeführten Happy-End zum Trotz, im Chaos.
Das »Dilemma des Anders-sein-Wollens. aber nicht Anders-sein -Könnens« (Kritiker Eckhart Schmidt) hat sich für den Spaßmacher, der immer wieder von seiner »Frustration« spricht, privat wie auf der Leinwand als unlösbar erwiesen. Immerhin. Fortschritte im Versuchsprogramm zur Selbstverwirklichung sind an den jüngsten Filmen abzulesen:
Nun sucht er nicht mehr in jedem Filmpartner die entbehrte Mutter, nun treten auch mal liebenswürdige, von der Hauptperson freundlich behandelte Frauen auf. Und in der Kriegsfilm-Persiflage »Wo, bitte, geht"s zur Front?« (1970) versöhnt der Filmemacher seine Wunschwelt sogar mit der Wirklichkeit.
Nur noch ironisch zitiert er die alten Konflikte (Angst vor Frauen und Mißerfolg. Schizophrenie im Alltag), um sie in einer Utopie zu überbrücken: Ein Krösus à la Lewis. so die irreale Drehbuch-These. wäre durchaus imstande gewesen, den Zweiten Weltkrieg auf eigene Faust zu beenden. Der »reichste Mann der Welt« (Lewis) rekrutiert eine Privat-Truppe und entführt den gleichfalls von Lewis gespielten Generalfeldmarschall Kesselring. Dann nimmt er dessen Posten ein und befiehlt der deutschen Armee ihren Rückzug von der Italien-Front.
Im Führer-Bunker vollendet er später, nach einem in gespenstischer Zeitlupe gefilmten Tête-à-tête mit dem Diktator. das historisch gescheiterte Attentat auf Hitler und begibt sich in Admiralsmontur zu den Japanern. um dort ebenfalls zu siegen.
Als einen »Spaß über Dinge, die eigentlich tabu sind«, hat der Vietnamkrieg-Gegner Lewis diese seit Chaplins »Großem Diktator« scharfsinnigste Nazi-Satire motiviert, ein Kommentar. der auch auf alle früheren Selbstdarstellungen des Filmclowns zutrifft.
Denn obschon privaten Ursprungs. sind seine komischen Leinwand-Komplexe zugleich immer die Inkarnation jener Beklemmungen. unter denen seine Zuschauer leiden. »Man bezahlt mich«. sagt Lewis. »weil ich das tue, wofür Kinder sonst bestraft werden. Und indem ich das tue, helfe ich dem Publikum. seine Aggressionen loszuwerden.«
Der genesende Neurotiker als Lebenshelfer? Anders läßt sich der Erfolg des in den USA noch immer als Quatschmacher verkannten, vom französischen Kritiker Robert Benayoun jedoch schon vor 15 Jahren als »Genie« entdeckten Künstlers schwerlich erklären.
Aber während die heilsamen Grotesken derzeit zu einem neuen Lewis-Boom geführt haben -- in der Bundesrepublik erzielte allein die Verleihfirma CIC mit 17 Reprisen und einer Erstaufführung im letzten Geschäftsjahr Theatereinnahmen in Höhe von 3,6 Millionen Mark -, denkt der Komiker schon daran, seine Star-Karriere zu beenden.
»In den nächsten zwei oder drei Jahren » jedenfalls bevor er »zu alt« dazu sei, wolle er ganz ins Regie-Fach überwechseln. Eine erste Probe solcher Abstinenz, einen Lewis-Film ohne Lewis, hat er bereits ins Kino geliefert: In seinen »Pechvögeln« (1969) führt er ein Komiker-Tandem vor, als hätte er Dean Martin und Jerry Lewis vor sich --Sammy Davis jr. spielt den gutmütigen Tolpatsch, Peter Lawford seinen überlegenen Beschützer.