FERNSEHEN / Telemann STEIGERUNG
Seit dem 5. September spielt sich in 4,2 Millionen Heimstätten folgendes ab: Kaum hat die »Tagesschau« jenes Stadium erreicht, wo man denkt, nun passiert höchstens noch ein landsmannschaftliches Treuebekenntnis oder auch etwas Kulturelles, da kommt es ganz anders. Auf der Bildfläche erscheint der Berufskomiker Edgar Ralphs in der Maske eines Stationsvorstehers und sagt: »Entschuldigen Sie bitte, die Fahrkarten gibt es diesmal auf dem Postamt, und die heißen nicht mehr Fahrkarten, die heißen Zahlkarten...« Und dann erfährt man zu den Klängen eines munteren Marschliedchens, daß man, wie in den Vorjahren, auf das Postscheckkonto Hamburg 100 000 fünf Mark einzahlen soll, damit Berliner Kinder Ferienfreiplätze und erwachsene Bundesbürger schöne Reisen und Kraftfahrzeuge erlangen.
Telemann hat das Werbebeispiel vom 15. September ausgewählt. Ohne böse Absicht. Weiß er doch, daß Mildtätigkeit eine Tugend ist, die auch dem deutschen Volkscharakter nicht von ungefähr entsprießt. Wer einzig ans »goldene Herz« appelliert, der wird in seinem Sammelbeutel nur Kupfer vorfinden. Denn siehe, die Schickung waltet oft übel, und nicht jedes Fernseh-Lotterielos ist ein Treffer. Wer aber im Allgäu und im Bayrischen Wald ganze Familien -Feriendörfer erstellen will, muß einige Handbreit tiefer zielen - auf seiner Mitbürger goldenen Humor.
Das tut der Nord- und Westdeutsche Rundfunkverband nun Abend für Abend; zu einer Sendezeit, da selbst verstockte Naturen vor ihrem Empfänger sitzen. Doch jedesmal, wenn Telemann sich vornimmt, in das Gelächter einzustimmen, das da pünktlich um 20.15 Uhr durch die Bundeslande braust, ergeht es ihm wie am 3. September, als im Bunten Auftakt-Abend zur Fernseh-Lotterie ("Reise, Rast und dufte Blüten") ein Frühvierziger namens Klaus-Günter Neumann jählings in Herrenabendstimmung geriet: Es wandeln ihn Hemmungen an.
Schließlich fragte er den Lotterie -Veranstalter Jochen Richert fernmündlich, wer denn diese täglichen Tagesschau-Anhängsel verursacht habe. Denn über die Zielsetzung eines Scherzes, den zu belachen man sich fruchtlos bemühte, kann einem ja niemand besser Auskunft geben als dessen Schöpfer.
»Lieber Kollege«, antwortete Jochen Richert (was Telemann, der noch nie ein Glücksspiel organisiert oder einen Harzhirsch belauscht hat, ungeheuer schmeichelte), »wir haben alle Kabarettisten, die man überhaupt nur greifen kann, zur Mitarbeit herangezogen.«
Die Namen verschwieg er. Statt dessen wies er im weiteren Zwiegespräch auf einen Umstand hin, der
in akuter Gefahr ist, von humorfremden Laien übersehen zu werden: Die wohltätigen Filmsketsche, so sagte Jochen Richert, »steigern sich«, werden Abend für Abend lustiger, um endlich, kurz vor dem Einzahlungsende, in einem Feuerzauber der spaßigen Einfälle zu gipfeln.
Und richtig, als Telemann sich an den Abend des 16. September zurückerinnerte, war eine Steigerung gegenüber dem Vorabend bereits unverkennbar:
Zigeunermädchen (Blume im Mund) zur Schildwache: »Kennst du mich nicht? Ich bin's, Carmen!« - Soldat: »Du hast keinen guten Ruf, Mädchen!« - Zigeunerin: »Was kümmert dich das Gerede. Komm mit, ich kann dir verlockende Dinge zeigen ... Ich kann dir die Schenken der Zigeuner zeigen, ich kann dir den Tanz der Zigeuner zeigen, und ich kann dir ... das Postamt zeigen.«
Und am 19. September: Altes Ehepaar im Wald. Er zeigt ihr das »Zeichen der Liebe«, das er vor 52 Jahren in die Baumrinde geritzt hat. Ein Förster überrascht die beiden und wirft ihnen »mutwillige Beschädigung des Baumbestandes« vor. Pointe: »Diesmal werde ich Sie noch mal laufen lassen. Aber da Sie so gerne Ihre Namen schreiben, bitte, hier (auf die Zahlkarte) dürfen Sie Ihre Namen draufschreiben.«
So jagt ein humoriger Komperativ den anderen, und wessen Lachlust heute noch schlummert, der braucht weder morgen noch übermorgen zu verzweifeln. Denn bis Jochen Richert seine Los-Trommeln rotieren läßt, wird sich die karitative Kurzweil derart gesteigert haben, daß auch der etwas schwerfälligere Freund des Frohsinns auf seine Kosten kommt.
Nur um einen Zuschauerteil macht sich Telemann ernstlich Sorgen. Nämlich um den, der über so abseitige Humorvorstellungen verfügt, daß er das, was die greifbaren Kabarettisten des Bundes in der Spanne zwischen »Tagesschau« und Wetterprognose verstecken; nicht einmal als Superlativ zu genießen wünscht. Diese kleine Minderheit, so steht zu befürchten, wird Richerts Riesel-Anlage auch fürderhin für eine Belästigung halten und insgeheim jener Erscheinungsform des Wohltuns Abbitte leisten, die unter der Bezeichnung »Straßensammlung« Verruf erlangt hat.
Wer nämlich bei letzterer sein Quentchen Sozialgefühl an den Tag gelegt hat, darf sich eine Stoffblume oder ein Brandenburger Tor ans Revers heften und ist vor künftiger Behelligung gefeit. Wer jedoch ans Postscheckamt Hamburg fünf Mark überwiesen hat, muß weiter dulden - bis zur letzten Verlängerung der Einzahlungsfrist. -
Merke: »Heute lustig, morgen froh, übermorgen wieder so« (Hoffmann von Fallersleben).