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FERNSEHEN / Telemann STERNEN-MUSIK

aus DER SPIEGEL 43/1962

Will unser Fernsehen einen längeren Schulungskurs abhalten - und wann hätte es dies nicht gewollt? -, darf der TVFreund getrost sein: Tiefsee-Fragen beantworten Hans und Lotte Hass. Sind's die Himmelskörper, geht man zu Rudi Kühn. Und soll Vergangenes ans Licht gehoben werden, klettert C. W. Ceram aufs Katheder.

Nun haben die Anstalten, als neuestes volkspädagogisches Fundland, die Zukunft entdeckt.

Daß sie »schon verbaut« werde, benörgelte das Dokumentierer-Gespann Strobel/Tichawsky (11. Oktober, Zweites Programm). »Auf der Suche nach der Welt von morgen« ("Griff in unser Denken«, Erstes Programm) befinden sich die Dozenten Proske und Rehbein. Ordinarius und Leuchte des neuen Lehrfachs aber ist, versteht sich, Robert Jungk, dessen sechsteilige Filmserie »Europa - Richtung 2000« (Erstes Programm) in dieser Woche zu Ende geht.

Bleiben wir bei ihm.

Wer seine Bücher gelesen hatte, der wußte es im vorhinein: Ein Schönseher ist er nicht, der Robert. Wenn es jemanden

gibt, der dem Wirken seiner Kindeskinder freudlos entgegenblickt, dann ihn. Und richtig, voller Verdrießlichkeit guckte er auch aus der TV-Röhre; wetterte wider Gegenwarts-Greuel, wie »die Traurigkeit endloser zerfallender Armuts- und Elendsviertel«, die »eigentlich gar nicht nach Europa gehören«; mißbilligte den Tiefbau ("Maulwurfsstädte"), geißelte die »Betonwüste Neapel« oder brach beim Anblick von Baustoffmixern auf Gefilden, »wo einst die Kultgesänge der Mysterien erklangen«, in den Wehruf aus: »Dionysos ist tot!«

Voll »ahnender Trauer« fragte er: »Wie werden wohl die Trümmer aussehen, die wir einmal zurücklassen?« Und, angesichts hochragender Müllhalden: »Wollen wir in unseren eigenen Exkrementen liegen?«

Mitten hinein aber sänftigt er: Nicht eitel Unflat berge der Zukunft Schoß, sondern auch diversen Nutzen - worunter Jungk, außer Fortschritten in der Molekularbiologie oder der Plasmaforschung, nicht zuletzt das elektronische Rückkoppelgeräusch verstanden wissen wollte, mit dem seine Sendereihe ausgeschmückt war: »Diese Tonkunst ... ist sie nicht vielleicht gestaltete Sternenmusik?«

Überhaupt war der Prophet nicht frei von Zwiespältigkeit.

Bejammerte er in der einen Filmfolge die Enge und das Elend der Slums, die Verschandelung alter Innenstädte durch wolkenhohen Stahlbeton, oder den geringen Eifer beim Erstellen neuen Wohnraums, so attestierte er das andere Mal: »Immer mehr Städte werden gebaut. Die Wohnungen in diesen Satellitenstädten sind hell ... sauber ... es ist für viel Grünfläche gesorgt.« Und mäkelte: »Aber ist der Mensch ein Gemüse?«

Erschien ihm auf der einen Seite das Ende aller menschenunwürdigen Beschäftigung beglückend nahe ("Die langweilige wird ebenso wie die schwere körperliche Arbeit schwinden"), gruselte ihn andererseits vor einer »Arbeitsgesellschaft«, der, nachdem alle Industrie automatisiert worden ist, »die Arbeit ausgegangen« sein würde.

Und zeigte Haruspex Jungk am konformistischen Schreck-Beispiel des »Club Méditerranée« auf Korfu, wohin eine Menschheit abzugleiten droht, die

ihren Pauschal-Urlaub am liebsten in Grashütten verbringen möchte ("für unsere normale Lebensweise ein großes Verdammnis-Urteil"), so mußte sein voranleuchtendes Exempel erst recht stutzig machen. Führte es den Beschauer doch an Stätten der Gegenwart, wo zukunftweisende Mußegestaltung noch weit straffer organisiert ist. Zum »Freizeitheim« in Hannover etwa (... vermittelt den Bewohnern Verbundenheit, gestattet aber auch ein Sich-Zurückziehen des einzelnen"). Oder an die Volkshochschule in Unna, mit »einer der beliebtesten und lebendigsten Gruppen, dem Fernseh-Kreis«.

Was, fragt sich seitdem manch einer, der da ohne Leitfaden im Labyrinth der Möglichkeiten stekkenblieb, was soll uns die futuristische Vielfalt?

Telemann errät es: Robert Jungk wollte durch dieses sein gerüttelt Quentlein Wirrsal andeuten, daß sich die Dinge im dritten Jahrtausend nach Christus sowohl auf die eine als auch auf die andere, ja, unter Umständen sogar auf eine dritte Weise entwickeln könnten.

Merke: »Heute ist heute; aber morgen ist ein unbegreiflicher Tag«

(Holländisches Sprichwort).

Jungk

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