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ATOMENERGIE Still verdunsten

Die Zahl der Kernkraft-Befürworter nimmt wieder zu. Eine »Deutsche Reaktor-Risikostudie« scheint ihnen recht zu geben.
aus DER SPIEGEL 34/1979

Uunter den 1300 Atomingenieuren und -technikern, die sich letzte Woche im neuen Berliner Congress-Centrum zur 5. Internationalen Reaktor-Konferenz versammelt hatten, war der Frust noch weit verbreitet. »Viele von uns sind niedergeschlagen«, so beschrieb einer von ihnen die Stimmung, »schließlich sind wir von unserer Sache völlig überzeugt, aber die Bürger ziehen nicht mit.«

Doch das Unbehagen der Bundesbürger an der, wie in Berlin immer wieder betont wurde, »sichersten und saubersten Art der Energiegewinnung« ist offenbar im Schwinden. Nicht zuletzt drohende Benzinknappheit und steigende Heizölpreise haben dazu beigetragen, daß beispielsweise der Anteil der entschiedenen Atomkraftgegner nach einer Umfrage in Hessen zwischen April und Juli dieses Jahres von 33 auf 22 Prozent sank, die der eindeutigen Befürworter von 50 auf 61 Prozent anstieg.

Angesichts der ersten deutschen »Reaktor-Risikostudie«, deren Ergebnisse Bundesforschungsminister Volker Hauff am Dienstag letzter Woche bekanntgab, dürfte die Stärke der Pro-Kernkraft-Fraktion sogar noch zunehmen. »Das Horrorgemälde weicht der Vernunft«, kommentierte das »Hamburger Abendblatt« die beruhigende Studie, die in dreijähriger Arbeit angefertigt worden war.

Viereinhalb Monate nach der Beinahe-Katastrophe am amerikanischen Atomkraftwerk Three Mile Island scheint das Menetekel von Harrisburg zur Bedeutungslosigkeit verblaßt. Zwar ist die Radioaktivität in dem Stahlbetonbehälter noch immer so hoch, daß er selbst mit Schutzkleidung allenfalls für einige Minuten betreten werden könnte; und erst in anderthalb bis zwei Jahren wird die Strahlung auch im stählernen Reaktordruckgefäß so weit abgeklungen sein, daß die Schäden am Reaktorkern besichtigt werden können.

Aber schon ist die Atom-Lobby dabei, den Harrisburg-Unfall geradezu zum Beweis der Sicherheit von Atomreaktoren umzufrisieren. Der amerikanische Energiepolitiker und Abgeordnete Mike McCormack bewertete auf dem Berliner Kongreß den Unfall von Harrisburg allenfalls als eine »Kernschmelze eines Teils der Presse und der elektronischen Medien«. Niemand sei geschädigt worden, und »die Anlage hätte die Öffentlichkeit auch noch vor einem viel schwereren Unfall bewahrt, wenn es dazu gekommen wäre

Für die in Berlin versammelten Gesundbeter, die den Schwächeanfall von Harrisburg so verzweifelt schnell zu überwinden trachteten, kam denn auch die in Bonn veröffentlichte »Deutsche Risikostudie« wie gerufen: Sie liest sich wie eine im Namen der Wissenschaft ausgegebene Entwarnung.

Analog zu der schon legendären, 1975 von dem US-Wissenschaftler Norman Carl Rasmussen vorgelegten »Reaktorsicherheitsstudie« kommt nun auch die deutsche Gefahrenanalyse zu dem Ergebnis, daß der Bevölkerung von Kernkraftwerken nahezu keinerlei Risiko droht.

Für jeden einzelnen Bundesbürger, so erläuterte letzte Woche Professor Adolf Birkhofer, Geschäftsführer der Kölner Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) und Koordinator der Studie. sei die Gefahr. bei einem Verkehrsunfall zu sterben, rund tausendmal größer als das Risiko, bei einem Reaktorstörfall ums Leben zu kommen.

Nur einmal in 10 000 Reaktorbetriebsjahren sei mit einem »Meltdown«, dem Zerschmelzen eines Reaktorkerns? zu rechnen; zu ernsten Folgen für die Bevölkerung komme es aber nur bei jedem hundertsten Kernschmelz-Unfall; der schlimmste aller überhaupt denkbaren Reaktor-Unfälle -- 14 500 Soforttote und 104 000 weitere Todesopfer in den folgenden 30 Jahren -- kann, laut GRS-Studie, höchstens einmal in zwei Milliarden Jahren pro Reaktor vorkommen.

Trotz aller Kritik, die in den letzten Jahren an der Rasmussen-Studie geübt worden war und inzwischen auch von Rasmussen zum Teil akzeptiert wird, stützten sich die deutschen Risiko-Rechner nicht nur ausdrücklich auf die Methodik des Amerikaners; sie beschränken sich, wie bereits Rasmussen, bei ihren Untersuchungen einzig auf Kernschmelz-tjnfälle -- und lassen selbst dabei eine Fülle möglicher Katastrophen-Ursachen außen vor:

* So wurden Störfälle durch Kriegseinwirkung, Sabotage und Terrorismus gar nicht, Naturereignisse wie Sturmfluten, Erdbeben oder Blitzschläge nur am Rande berücksichtigt.

* Menschliches Versagen der Bedienungsmannschaften wurde nur insoweit einkalkuliert, als es sich auf technische Eingriffe bezieht, die in den Betriebshandbüchern der Kernkraftwerke vorgesehen sind.

* Obwohl gelegentlich Flugzeuge in bedrohlicher Nähe von Kernkraftwerken abgestürzt sind, verzichtet die GRS-Studie auf »detaillierte Analysen« des Flugverkehrs -- Grund: »Kein nennenswerter Beitrag zum Gesamtrisiko.«

* Trotz der gesicherten Erkenntnis, daß in der Bundesrepublik bislang ein allenfalls dürftiger Katastrophenschutz besteht, geht die Studie davon aus, daß »bei allen Unfällen« die betroffenen Regionen binnen acht Stunden evakuiert werden können.

Auf harte Tatsachen gründet sich die Untersuchung nicht einmal dort, wo es um die technische Zuverlässigkeit der Kraftwerke geht. Bei der Prüfung von Reaktor-Bauteilen etwa benutzten die Unfallforscher »vielfach Daten, die nicht für die tatsächlich vorhandene Komponente, sondern für Komponenten ähnlicher Bauart und unter ähnlichen Einsatzbedingungen ermittelt wurden«. Auch hielten es die GRS-Forscher für »nicht erforderlich«, bisher bekannte, realistische Reaktor-Pannen möglichst vollzählig zu erfassen und auszuwerten.

Am Ende lassen die Autoren das Ergebnis ihrer Risiko-Rechnung gleichsam still verdunsten. Fußend auf den Erfahrungen in bisher weltweit rund 1500 Reaktorbetriebsjahren, finden sie es denn doch etwas windig, »für Ereignisse mit Wahrscheinlichkeiten von eins zu einer Milliarde pro Jahr« noch »einigermaßen verläßliche« Prognosen zu machen: Es sei »fraglich, ob Ereignisse mit der genannten oder einer noch geringeren Häufigkeit in reale Überlegungen überhaupt noch einbezogen werden können

In politische jedenfalls: Forschungsminister Hauff konnte im Kalkül der Risiko-Rechner »keine Anhaltspunkte« entdecken, »die meine positive Einstellung zur friedlichen Nutzung der Kernenergie ändern müßten«.

Der zeitweise wankende Mut zum Atomrisiko kehrt auch in den USA wieder zurück. Dort hat der Energie-Experte Alvin M. Weinberg einen Plan entwickelt, der den Bau gigantischer Kraftwerkszentren mit jeweils zehn oder mehr Reaktor-Blocks vorsieht. 96 solcher Komplexe, gruppiert um schon bestehende Atomstromfabriken, sollten laut Weinberg bis 1998 in Amerika errichtet werden.

Die Weinberg-Zentren mit ihrer geballten Atomkraft würden zwar alle bisherigen Sicherheitsstudien zu Makulatur werden lassen -- sie bieten aber dafür nach Ansicht des Energieplaners beachtliche Vorteile.

So entfiele die mühsame, mit zeitraubenden Genehmigungsverfahren verbundene Standortsuche für immer neue Kernkraftwerke; die teuren Sicherungsmaßnahmen, auch für die dann selteneren Transporte radioaktiver Stoffe, könnten reduziert werden. Schließlich fände, so Weinberg, der öffentliche Protest gegen den Ausbau der Kernenergie kaum mehr Angriffspunkte.

Weinbergs Idee ist einem deutschen Professor schon früher gekommen. Für die Bundesrepublik formuliert hatte sie Rudolf Schulten, Leiter des Jülicher Instituts für Reaktorentwicklung, Anfang der siebziger Jahre -- sein Konzept: fünf bis zehn Energiezentren, verteilt auf die Eifel, die Rhön und den Bayerischen Wald, und jeweils bestückt mit einem Dutzend Hochtemperatur-Reaktoren.

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