KATASTROPHEN / SCORPION Stimme verstummt
Gleich einem streunenden Wal durchstreifte der plumpe Schiffsleib die dämmrigen Abgründe der Weltmeere. Wochen, oft sogar Monate dauerten die verborgenen Streifzüge des Geisterschiffs. das zweimal den Erdball umfahren konnte, ohne dabei einen Hafen anlaufen zu müssen. Nur selten tauchte das Boot an die Meeresoberfläche empor, meist verbarg es sich in der Tiefe des Ozeans -- einmal mehr als 70 Tage hintereinander.
Ende letzter Woche war kaum mehr zweifelhaft, daß die »Scorpion« -- ein atomgetriebenes U-Boot der US-Marine für immer in den Meeresschlund hinabgetaucht sei. Von Seemanövern mit der 6. US-Flotte im Mittelmeer war die »Scorpion« nicht in ihren Heimathafen Norfolk an der amerikanischen Ostküste zurückgekehrt.
Dort hätte das U-Boot am Montag letzter Woche eintreffen müssen. Aber Stunde um Stunde verrann, ohne daß sich die Funk-Stimme der »Scorpion« gemeldet hätte -- die letzten Funksprüche waren sechs Tage zuvor aus dem Nordatlantik südwestlich der Azoren empfangen worden.
Während in einem Vorort von Norfolk, im Hause des »Scorpion« -Kommandanten Francis A. Slattery, sechs Ehefrauen der vermißten Seeleute (Gesamtbesatzung des Atom-U-Boots: 99 Mann) auf bessere Nachricht harrten. durchforschten Flugzeuge und eine Armada von 36 Suchschiffen -- später auch noch Spionage-Satelliten
den stürmisch aufgewühlten Atlantik nach Spuren des Tauchschiffs. Zugleich erwachte in den USA die Erinnerung an ein Desaster, das die US-Navy im Jahre 1963 getroffen hatte der Untergang des Atom-U-Boots »Thresher« (129 Tole).
Wie die »Thresher«, die im April 1963 -- aus niemals ganz geklärten Ursachen im Atlantik versank, zählte auch die »Scorpion zu den modernsten Unterwasser-Kampfschiffen der Welt. Insgesamt verfügte die amerikanische Marine nur über fünf Tauchboote dieses Typs (Stückpreis: 160 Millionen Mark), die etwa viermal so groß sind wie die deutschen U-Boote im Zweiten Weltkrieg.
Mit 40 Knoten (7O Stundenkilometer) Geschwindigkeit (Antriebsleistung: 30 000 PS) gleiten die 77 Meter langen Atom-Boote dieser Bauart durchs Wasser. Doch selbst hei Höchstgeschwindigkeit bleiben sie wendig wie Tümmler mit kurzen Tragflächenstummeln rechts und links am Turm vermögen sie unter Wasser geradezu Haken zu schlagen.
Solche Fähigkeit zur Kursakrobatik machte die »Scorpion« zu einem idealen Jagd-U-Boot, und dank seines atomaren Antriebs konnte das Schiff, wenn es feindlichen Raketen-U-Booten nachsetzte, notfalls zwei Jahre auf See bleiben ohne Brennstoff nachzufüllen: Reichweite: rund 60 000 Seemeilen (111 000 Kilometer). Die Tauchtiefe des U-Boots wird von der US-Marine geheimgehalten. Doch Fachleute nehmen an, daß Boote des »Scorpion« -Typs jedenfalls mehr als 300 Meter tief in die See hinabtauchen können.
Schon in 300 Meter Tiefe lastet auf jedem Quadratmeter eines Schiffsrumpfs ein Druck von rund 300 Tonnen (30 Tonnen je Quadratmeter genügen. um die Blechkarosse eines Autos zu einem handlichen Paket zusammenzustampfen). Mit jedem Meter, den das Schiff weiter absinkt, wächst der Druck je Quadratmeter um eine weitere Tonne. Und je schneller sich ein solch unbeabsichtigtes Absinken -- etwa durch ein klemmendes Tiefenruder -- vollzieht, um so größer ist die Gefahr, daß Ventile, Schweißnähte und Kühlwassersystem unter dem plötzlichen Überdruck bersten.
Unter solch dramatischen Umständen ist, wie die Experten annehmen, auch die »Thresher« zermalmt worden. Einige Monate nach dem Unglück fand dar Forschungsschiff Trieste« einige Wrackteile der »Thresher« -- in 2560 Meter Tiefe.
Unter dem Eindruck der »Thresher«-Katastrophe gaben Amerikas U-Boot-Admirale damals Order, die Entwicklung eines Rettungssystems zu beschleunigen, mit dessen Hilfe die Mannschaften havarierter Tauchboote auch aus größeren Meerestiefen geborgen werden könnten: neuartige Tiefsee-Tauchboote (Länge: 15 Meter), die mit Scheinwerfern und elektronischen Spürgeräten ausgerüstet sind.
Die zigarrenförmigen Rettungstauchboote, die von einem Propeller am Heck angetrieben werden und mit Hilfe von Wasserdüsen zentimetergenaue Manöver ausführen können, sollen drei Mann Besatzung haben. Ein mechanischer Greifer, der am Bootshauch angebracht ist, soll Hindernisse aus dem Weg schaffen oder die verschüttete Ausstiegsluke eines gesunkenen U-Boots freiräumen können.
Am Boden der Tauchboote ragt ein zylinderförmiges Stahlrohr heraus, das wie eine Glocke über die (in jedem U-Boot eingebaute) Rettungsluke gestülpt und leergepumpt werden kann. Durch diesen Verbindungstunnel sollen dann die Insassen des U-Boots -- bis zu 24 bei einem Rettungsmanöver -- in das Hilfsboot klettern können.
Als letzte Woche die Suche nach dem Atom-U-Boot »Scorpion begann, hatte noch keines der neuartigen Rettungsschiffe die Werft verlassen. Sechs solcher Mini-U-Boote sind derzeit bei der US-Flugzeugfirma Lockheed in Bau. Spätestens 1970 soll das kombinierte Bergungssystem voll einsatzfähig sein. Geplant ist dazu auch eine Art U-Boot-Träger, von dem aus die Rettungsschiffe in der Nähe der mutmaßlichen Unfallstelle zu Wasser gelassen werden können. Das erste der Rettungs-U-Boote soll Ende dieses Jahres vom Stapel laufen.
Doch selbst wenn die Rettungsflotte schon einsatzbereit wäre sie hätte der »Scorpion-Mannschaft kaum Hilfe bringen können. Die Rettungstauchboote können bis zu einer Tiefe von maximal 1500 Metern operieren. Ihr Einsatzgebiet beschränkt sich also im wesentlichen auf die sogenannten Festlandssockel, die den Kontinenten vorgelagerten Regionen mit Wassertiefen zwischen 80 und 200 Meter. Außerhalb dieser Festlandssockel betragen die Meerestiefen meist 2500 Meter und mehr.
Aussichtslos wäre zudem jeder Rettungsversuch auch mit noch so leistungsfähigen Hilfsbooten gewesen, wenn sich auch mit der »Scorpion« ereignet hätte, was die Experten mittlerweile als mutmaßlichen Hergang des »Thresher«-Unglücks rekonstruiert haben. Daß damals nur wenige Wrackteile gefunden wurden, hatte zunächst die Vermutung nahegelegt, eine Explosion sei die Ursache gewesen.
Später aber kamen Meeresforscher zu der Überzeugung, daß eine Art unterseeischer Naturkatastrophe die »Thresher« zerstört habe. Eine gigantische Flutwelle, so der letzte Stand der » Thresher« -Diskussion, könnte das Boot während eines Tieftauchmanövers erfaßt und in Sekundenschnelle um Hunderte von Metern in Tauchtiefen gerissen haben, in denen der stählerne Leib des Schiffs buchstäblich zerfetzt wurde.