THEATER / TERLECKY Streit um Veilchen
Der Vorhang geht auf, doch die Bühne bleibt versperrt. Statt auf Kulissen, und deklamierende Akteure blickt das Publikum in einen überdimensionalen Spiegel.
Aber drunten im Parkett, zwischen den Zuschauern, haben Schauspieler Platz genommen. Sie halten Selbstgespräche, sie diskutieren mit Nachbarn oder hadern mit dem »Regisseur«. Das Theater findet im Saale statt.
Den Witz mit der Spiegelwand hat sich der exil-tschechische Romancier und Dramatiker russischer Abkunft Nikolal Terlecky, 64, für sein Stück »Commedia dell'arte« ausgedacht, das letzten Samstag in Bonn uraufgeführt wurde. Ziel und Effekt des Tricks: Das Publikum kommt mit ins Spiel.
Aus seiner Mitte erhebt sich etwa ein alter Herr und unterbricht den »Regisseur«, der ein Rührstück namens »Unglückliche Liebe« spielen lassen möchte. An der Stelle des Theaters, behauptet der Graukopf, habe sich noch gestern eine Kneipe befunden. Andere Personen, die bisweilen auch Ihre Plätze verlassen und auf die schmale Rampe vor dem Spiegel steigen, mischen sich ein und bringen auch ihre Meinung über die Liebe und das Berufsleben an. Denn, so sagt der »Regisseur«, »in unserem Theater hat jeder das Recht zu sprechen«.
So unentwirrbare Verquickung von Theaterwelt und Wirklichkeit, die Terlecky beim Italiener Luigi Pirandello (1867 bis 1936) vorgebildet fand, hat er schon mehrfach in seinen Stücken ausprobiert, so in »Ignacio Esperos Rolle« (1962) und in einer »Flucht aus dem Spiel« (1965).
Im gleichen Jahr war auch Terlecky selbst, wieder einmal, auf der Flucht. Der Sohn eines zaristischen Generalstablers war 1919 nach Istanbul und 1921 in die Tschechoslowakei emigriert, die Ihn jedoch erst 27 Jahre später zum Staatsbürger machte. Nach häufigem Rollenwechsel Im bürgerlichen Leben -- Terlecky war Lehrer, Lektor, Dramaturg, Übersetzer, Bibliothekar und Almosenempfänger -- setzte sich der Autor, der verdächtigt wurde, »unerlaubte Sachen zu schreiben«, 1965 über Österreich in die Schweiz ab. Dort, in Zürich, verfaßte er 1968 seine »Commedia«.
Sie ist voll verklausulierter Anspielungen auch auf politische Verhältnisse: Heftige Diskussionen entzünden sich an der vom Staat zu regelnden Frage, ob die Sonne im Osten oder im Westen aufgehe, und Generationskonflikte werden mit absurder Gewalt gelöst: Ein junger »Zuschauer« erschießt im Zank darum, ob es tatsächlich Veilchen gebe, den »Regisseur«, Doch immer wieder begütigt jemand: »Streiten Sie nicht, wir sind doch nur im Theater.«
Und im Theater ist einfach alles möglich. So wird der erschossene »Regisseur« von einem »heiligen Feuerwehrmann wiederbelebt, ein alter Herr wirft Zahnprothese und Brille fort und ist auf einmal wieder jung, und nur die Realität soll draußen bleiben:
Einer der Zuschauer-Spieler will durchs Klofenster im Hinterhof des Theaters einen Galgen und ein Hinrichtungspeloton gesehen haben, doch er wird beschwichtigt: »Der Hof gehört nicht zum Theater, was dort geschieht, betrifft uns nicht.« Zum Ende aber muß einer nach dem anderen vor das Peloton -- Im Hinterhof wird geschossen.
Das Vexierspiel mit dem Parkett als Bühne hält der wirkliche »Commedia«-Regisseur, der Bonner Intendant Hans-Joachim Heyse, sogar noch bis zur Applausordnung durch: Das Publikum, das logischerweise schon zu den Proben zugelassen war, soll nur sein eigenes Spiegelbild beklatschen.