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HOLOCAUST Stummer Schrei

aus DER SPIEGEL 25/2004

Er ahnte, dass er nicht überleben würde: Bevor der jüdische Dichter und Warschauer Ghettokämpfer Jizchak Katzenelson 1944 in Auschwitz ums Leben kam, ließ er sein letztes großes Werk, in einen Koffergriff eingenäht, nach Palästina schmuggeln, um der Welt ein poetisches Zeugnis zu hinterlassen - erfolgreich: Liedermacher Wolf Biermann, 67, fand das Dokument, den »Großen Gesang des Jizchak Katzenelson vom ausgerotteten Jüdischen Volk«, knapp 50 Jahre später im Kibbuz der Warschauer Ghettokämpfer in Israel, dichtete es nach und brachte es dem deutschen Publikum rezitierend zu Gehör. Eine seiner Lesungen, 2003 vor der Israelitischen Cultusgemeinde in Zürich, liegt nun beim Versand Zweitausendeins als CD vor. »Wie kann ich singen? Aus zertretener Seele kommt kein Laut«, fragt Katzenelson in einem seiner 15 Gesänge. Biermann singt. Brüllt. Schreit. Wimmert. Und rezitiert, mit gnadenloser Sprachgewalt, die erschütternden Strophen über den Warschauer Ghettoaufstand, über mit Menschen voll gestopfte Waggons und die Schmutzarbeit jüdischer Polizisten für die Gestapo. Zwei Minuten lang schweigt das Zürcher Publikum, bevor der Applaus niederprasselt. »Dieses Schweigen der Überlebenden der Shoa dort erlebte ich als einen beredten, einen stummen Schrei«, sagt Biermann.

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