RAUMFAHRT / RAKETEN-ANTRIEB Sturm im Glas
Sechsundfünfzig Meter weit fauchte der Welt erste Flüssigkeitsrakete, die der Amerikaner Robert H. Goddard am 16. März 1926 auf einer Farm in Auburn (US-Staat Massachusetts) abgefeuert hatte.
Eine Million Kilometer wird Amerikas derzeit mächtigstes Himmelsgeschoß, die kirchturmhohe Raum-Rakete »Saturn V«, bei ihrer Mondmission durchmessen. Doch in den vier Jahrzehnten moderner Raketentechnik blieb das Kernstück der Strahl-Geschosse -- ihr Antrieb -- im Prinzip unverändert: Stets tritt der Feuersturm schubmächtiger Antriebsgase durch jene glockenförmigen Düsen am Reck aus, die bei den fünf Mammut-Motoren der Saturn V schon dreifache Mannshöhe erreicht haben (Durchmesser: drei Meter).
Nun haben die Techniker, die das Goddard-Prinzip am erfolgreichsten anwandten, zum erstenmal mit dieser Tradition gebrochen. Konstrukteure des Luft- und Raumfahrt-Konzerns North American Aviation, mit dessen Treibsätzen die ersten US-Astronauten und die meisten amerikanischen Satelliten und Sonden in den Weltraum katapultiert wurden, entwickelten in anderthalbjähriger Forschungsarbeit ein neuartiges, zukunftsträchtiges Raketentriebwerk: Aus einem ringförmigen Aggregat am Heck der Rakete schießen die Flammen durch eine Anzahl kleiner Düsen im Freien zu einem Feuerstrahl zusammen -- gebündelt wie im engen Durchlauf eines überdimensionalen Stundenglases (siehe Graphik).
Letzten Monat honorierte die US-Raumfahrtbehörde Nasa die Findigkeit der Konstrukteure mit 5,6 Millionen Mark: Die Unternehmensgruppe »Rocketdyne« im North-American-Konzern erhielt den Auftrag, den revolutionären Raketenmotor -- Projektname: »Aerospike« -- weiterzuentwickeln.
Bereits seit Mai dieses Jahres haben die Ingenieure von Rocketdyne ein Versuchsmodell des neuen Raketenantriebs auf dem Prüfstand. Es entwickelt rund 100 000 Kilopond Schub -rund zwölfmal soviel wie jedes Triebwerk einer Boeing 707. Aber der Test-Schub wird sich dereinst auf ein Vielfaches steigern lassen.
Bei allen bisher gebauten Raketen-Generationen kommt der Rückstoß, der das Raum-Geschoß vorantreibt, dadurch zustande, daß die austretenden Gase in der glockenförmigen Düse zu einem geschlossenen Gasstrom zusammengefaßt und gerichtet werden -- etwa wie ein Gewimmel von Kraftfahrzeugen, das durch breite Ausfallstraßen gelenkt wird.
Beim Aerospike-Triebwerk hingegen scheint es, als würden die in rasender Hitze aufgewühlten Gas-Teilchen sich freiwillig zu einem Antriebsstrom vereinigen -- nicht eingeengt durch die Wand einer Düse sondern außerhalb des Motors.
Die vielen kleinen Auslässe im Feuerring des Aerospike-Antriebs schicken das glühende Gas zunächst einwärts in Richtung auf die Mittelachse der Rakete. Dort entweicht gleichzeitig ein zweiter ("secondary") Gasstrom, gleichsam als eine Art Leit- und Sammelstrahl: In seinem Sog bündelt sich der antreibende Feuerstrom und erzeugt den Rückstoß.
Die aufwendige, aus hitzebeständigem Material gefertigte Düsenglocke, bislang typisches Merkmal des Raketenmotors, wird damit überflüssig. Aerospike-Antriebe werden nur ein Viertel so hoch sein wie vergleichbare herkömmliche Raketenmotoren -- und entsprechend leichter, ein entscheidender Vorteil in der Raumfahrttechnik.
Nutzen versprechen sich die kalifornischen Triebwerk-Hersteller jedoch vor allem auch von der Möglichkeit, das Ringsystem nach dem Baukasten-Prinzip zusammenzukoppeln -- wie Tortenstücke lassen sich weitere Elemente in den Ring einsetzen. Jedes Segment des Aerospike-Rings kann einzeln gefertigt und getestet werden; und bei Störungen, so hoffen die Techniker, wird jeweils nur das defekte Bauteil ausgewechselt werden müssen.
Vor allem aber wird der ringförmige Baukasten-Antrieb beträchtlich größere Nutzlasten ins All befördern können als die bislang verwendeten Raketenmotoren. Zwei Tonnen Nutzlast -- Atemsauerstoff und Proviant -- für jedes Besatzungsmitglied wird beispielsweise ein Raumschiff an Bord haben müssen, das zum nächsten Entdeckungsziel hinter dem Mond aufbricht: zum Mars.
»Solche bisher fernliegenden Raumfahrtziele«, prophezeite nun S. F. Jacobellis, Leiter des Aerospike-Teams, »sind jetzt in greifbare Nähe gerückt.«
Schon in naher Zukunft, so erwarten die Techniker bei Rocketdyne, werden Raketenantriebe mit einem Schub von 15 Millionen Kilopond gebaut werden können -- mit der vierfachen Leistung des mächtigen Triebwerkbündels einer Mondrakete vom Typ Saturn V.