FILM Stuyvesant in Niggertown
Nordsee ist Mordsee. Spielfilm von Hark Bohm. Deutschland 1976. Farbe. 85 Minuten.
Hark Bohms Film »Nordsee ist Mordsee« ist leider nur ein halbherziger Versuch, das (Hamburger) Milieu klauender Halbstarker zu schildern -- eine Mischung aus Schuljungenreport und Wilhelmsburger Elegie. Denn trotz ausgezeichneter Laiendarsteiler (Uwe Enkelmann und Dschingis Bowakow) und verführerisch schöner Kamera von Wolfgang Treu ("Trotta") bleibt die Flucht der beiden Halbwüchsigen, die mit dem selbstgebastelten Floß »Xanadu« die Elbe abwärts fliehen, im seichten Unterhaltungswasser einer neuen Kategorie Heimatfilm stecken -- faszinierende Bilder, die unbarmherzig die Schwächen von Regie und Drehbuch dekuvrieren.
Erzählt wird die Geschichte des Gastarbeiterjungen Dschingis und eines gleichaltrigen Halbwüchsigen, Bandenboß Uwe. Die automatenknackende Kinder-Gang aus den Wohnsilos der Arbeiterviertel Wilhelmsburgs drangsaliert und beschimpft Dschingis als schlitzäugigen Kanaker.
Gegen den Gruppenterror der Mitschüler und gegen die penible Fürsorge seiner gedemütigten und anpassungswilligen Mutter baut sich Dschingis aus Werftabfall ein phantastisches Floß. Als die Mitschüler-Bande mit ihrem Anführer Uwe dieses Floß zerstört, kommt es zur Gruppenschlägerei. Uwe und Dschingis richten sich gegenseitig grauenhaft zu, schließen danach aber plötzlich Freundschaft.
Wie in einem US-Billig-Western befriedigt die Regie dabei mit unnötig zerdehnten kruden Schlägerszenen Primitivstbedürfnisse. Das halbwüchsige Publikum (laut trotzdem widersinnigem FSK-Bescheid erst ab 16 Jahren zugelassen) quittiert dieses Zugeständnis zufrieden mit Kommentaren, die keinen Zweifel lassen, wie die Vorstadt- »Kung-Fu-sion« rezipiert wird.
Als Uwe von seinem saufenden Vater halb totgeschlagen wird, hauen beide Jungen ab, schippern elbabwärts, klauen ein Segelboot, brechen einen Kiosk auf, entkommen unentwegt der Polizei und treiben schließlich vor Krautsand mit dem kleinen Boot ins große Blau.
Auf diesen Trip entläßt der Regisseur seine minderjährigen Abenteurer mit der Angst vor Knast und Arschvoll in die ästhetisch gefilmte Ungewißheit der Stuyvesant-Horizonte. Udo Lindenberg malmt dazu müde Songs: » Ich
* Mit Uwe Enkelmann. Dschingis Bowakow
träume oft davon, ein Boot zu klaun und einfach abzuhaun ...« Der Text erscheint ais Insert auf schier endlosem Himmel so werbegraphisch perfekt wie eine Bommerlunder-Reklame.
An diesem Film ist so ziemlich alles ungenau: verzeichnet erscheint der proletarische Kinder-Alltag, der ungleich härter ist und der einer Regie, die bloß formal interessiert ist, zum Sozialkitsch zerrinnt. Durch Klischee-Szenen mit einem prügelnden Trinker, die schockieren sollen, durch gestellt schnoddrige Kinder-Dialoge entsteht eine undifferenzierte, unglaubhafte Milieu-Skizze. Die romantisch eingefärbte Kriminalität der cleveren Straßenkinder wird durch schöne Bilder verklärt. Die Skrupel der beiden Streuner, ganz offensichtlich Pädagogen zuliebe draufgeklebt, wirken besonders bei Sonnenuntergang penetrant. Die Lagerfeuer-Poesie der Abenteurer ist bis in die Details Mark Twain nachempfunden -- Huckleberry Finn was here.
Die ernste Absicht wird zur retuschierten Postkarten-Ansicht. Sie wirkt so echt wie der inzwischen kommerziell geglättete Sound des Teenager-Idols Lindenberg. Löcher im Drehbuch scheinen hurtig mit Redefüllsel und Improvisationen der jungen Laien vollgestopft zu sein. Derlei rasche Bewältigung von dramaturgischer Verlegenheit, von einigen Kritikern als besonders spontan und authentisch gepriesen, bringt allenfalls Dilettantismus, nicht Natürlichkeit an den Tag.
Die Sonntagsnachmittags-Phantasie eines Blankeneser Bürgerkindes flirtet vergeblich mit der Realität von Proletenkindern, die sich Trance und Träume gar nicht leisten können, weil sie in ihrer Wirklichkeit damit ganz einfach auf die Fresse fallen würden.
Die Fluchtwege halbwüchsiger Outsider aus »Niggertown« (wie die Elbinsel-Bewohner selbst ihr Viertel nennen) enden in der Realität nicht mit einem gekaperten Boot auf dem Strom, eher mit einer Flasche Schnaps in der Kneipe oder einem »Drogenschuß«.
Die Realisten in diesem Film sind die Kinder, der Phantast, der vor ihrer Realität Reißaus nimmt, ist der Regisseur.