MÄRCHENERZÄHLER Süßer Sirup
Mal behutsam, mal in wildem Stakkato schlägt der Mann aus Ghana die Urwaldtrommel. Schwermütigdumpf klingt das »Kra-Kra« der Raben, heiter-verspielt ein feines »Sirrr-Sirrr«, mit dem die zierliche Frau, die nun neben ihm auf der Bühne erscheint, ein Insekt nachahmt.
Lautmalerisch, in Gestik und Mimik hingebungsvoll, trägt die 46jährige Christa Schreiber eine afrikanische Tierfabel vor. Ihr Publikum - auf dem Gelände des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte - ist angetan.
Die ehemalige Volksschullehrerin geht so einer Profession nach, die in Deutschland in Mode kommt. Eine schwer erfaßbare, aber zusehends wachsende Anzahl von Bundesbürgern tingelt wie sie durch Stadtbüchereien, Altenheime und Kindergärten oder erprobt sich auf Kleinkunstbühnen, um Geschichten - vorzugsweise Märchen - zum besten zu geben.
Die Gebrüder Grimm sind wieder en vogue. Hobbyerzähler, aber auch ausgebildete Schauspieler und insonderheit arbeitslose Pädagogen, die sich nicht selten in Märchenseminaren oder Workshops ihr Rüstzeug verpassen lassen, greifen tief in den urdeutschen Fundus. Ungeniert wird mit Hänsel und Gretel ein manchmal beachtliches Zubrot verdient.
Erstaunlich sei das schon, weiß die Kasseler Kulturreferentin Ulla Rühl, wer da alles aus seinen »Elfenschlössern« heraustrete. 1988 hatte sie für das Landratsamt den ersten bundesweiten Erzählerwettbewerb betreut - ein touristischer Werbegag, um die oberhessische »Märchenstraße« populärer zu machen. Und die Resonanz übertraf die kühnsten Erwartungen: Überschlägig 500 Männer und Frauen waren ihrer Ausschreibung gefolgt.
»Kinder brauchen das«, lautet das Plädoyer des amerikanischen Psychologen Bruno Bettelheim, mit dem das Märchen in den Schoß der Pädagogik zurückgekehrt ist, aber nicht nur dort seine Renaissance erlebt. Was für kleine Menschen einstmals der sprichwörtliche »süße Sirup« war, schmeckt nun auch zunehmend einer Erwachsenen-Klientel.
Eine Entwicklung, die im Februar auf einem internationalen Kolloquium über das Geschichtenerzählen auch die Baseler Märchenforscherin Katalin Horn bestätigte. Vielerorten habe sich, zumal in der Schweiz und der Bundesrepublik, »diese neue Lust« ausgebreitet.
Und schon gibt es zwei »Schulen«. Eine orthodoxe, die mit Strenge darüber wacht, daß zum Beispiel »der schöne Sprachrhythmus der Gebrüder Grimm erhalten bleibt«, wie es die Initiatorin der Hamburger anthroposophischen Kulturinitiative »Forum«, Micaela Sauber, verlangt. Dem entgegen stehen »die Progressiven«, die dem eigenen Einfall folgen, etwa die Dortmunderin Christa Schreiber.
Andächtig und dicht an dicht sitzen die Besucher in den »Märchennächten« des »Forums«, wenn die Vortragenden bei Kerzenlicht und Bratäpfeln ihre Verbalinspiration betreiben. Das Motto heißt »Auswendiglernen«; nichts darf verlorengehen.
Enorm ist aber auch das Echo, sooft im Hamburger Kleinkunsttheater »Foolsgarden« die Irakerin Huda Al-Hilali über die Bühne wirbelt, um sich mit Hingabe auszuleben. Heimweh hat die diplomierte Filmemacherin und Studentin der Germanistik auf die Idee gebracht, frei geschöpfte Geschichten aus Tausendundeiner Nacht in die kühle Hansestadt zu tragen.
»Die Leute sind einfach des flimmernden Fernsehbildes müde«, erklärt sich der in Berlin arbeitende Syrer Rafik Schami, in dessen Erzählungen sich feuerspeiende Drachen und sprechende Apfelbäume begegnen, den auffälligen Zuspruch. Egal, ob Fabulierkunst die Akzente setzt oder die Geschichte in ihrem Ursprung gleichsam als Kunstwerk unangetastet bleibt - der in Schloß Bentlage bei Rheine beheimateten »Europäischen Märchengesellschaft e.V.« ist das alles recht. Wenn die Hexen und Prinzen nur fröhlich weiterboomen.
Nämlich: Für den Präsidenten Jürgen Janning, der dem immerhin 1800 Mitglieder zählenden Klub vorsteht, geht es nicht allein um die Wahrung »von Kulturgut und Erzählkultur«. Vielmehr werde derzeit »begriffen«, was die vermeintlichen Kindergeschichten in Wahrheit bewirkten: Ansprache »auf der Symbolebene«.
Das Märchen, wie es der Hamburger Rechtsanwalt Nils Horn allen Ernstes vertritt, ein Stück Lebenshilfe? Für die Forscherin aus Basel ist das ein Warnzeichen. Besorgt sieht sie in solchen Interpretationen »postmoderne Abkehr« und eine Tendenz zur »Anti-Aufklärung«. Enthusiastische Sinnsucher seien da bisweilen am Werk, die so etwa aus den gesammelten Geschichten der Grimms massenhaft »pseudoreligiöses Zeugs« herausdeuteten.
Doch der Run ist da und wird sich so rasch nicht bremsen lassen. Eine »Märchenschule« namens »Troubadour«, die in Heilbronn zweijährige Fern- und Intensivkurse im Erzählen (Kosten: 3100 Mark) anbietet, erklärt sich für ausgebucht. Kühn wird den Eleven vorgeschwärmt, als hauptberufliche Geschichtenerzähler künftig ordentlich abkassieren zu können.
»Sozioökonomische Gründe« sind daher auch nach Meinung des einstigen Realschullehrers Stefan Kuntz aus Köln eine der Ursachen dafür, daß immer mehr Troubadoure aufkreuzen. Er selber zieht als »Theaterdilldopp« unter dem Aufruf »Leih mir Dein Ohr« mit Storys, die er aus dem Stegreif erfindet, über die Dörfer. Aber er spürt schon Druck: »Das geht oft auf Kosten der Spontaneität.«