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FERNSEHEN / "PANORAMA" Tabun tabu

aus DER SPIEGEL 29/1970

Peter Merseburger, Moderator des Hamburger TV-Magazins »Panorama«, gab Ostsee-Urlaubern guten Rat: »Seien Sie bitte vorsichtig, wenn Sie am Strand rostiges Metall entdecken!« Ein »Panorama«-Filmbeitrag erläuterte, warum: »Ihr Urlaubsparadies birgt tödliche Gefahren.«

Mit dem Bericht über Unfallgefahren an Ostseegestaden durch treibende oder ans Ufer geschwemmte Kriegsrelikte -- Minen, Granaten, chemische Kampfstoffe -- platzte »Panorama« am Montag letzter Woche mitten in die Hochsaison an den Stränden zwischen Travemünde und Holnis. Erwartete Gästezahl in diesem Jahr: eine Million.

Ihnen allen -- Badegästen und Hobbyanglern, Strandläufern und Sporttauchern -- mußte wie ein Menetekel erscheinen, was der Schüler Wolfgang Rex, 14, aus Stein (Holstein) in der »Panorama«-Sendung zu Protokoll gab: Unweit Laboe, am Ostufer der Kieler Förde, hatte der Schüler, als er aus seichtem Ufergewässer einen Klumpen aus Tang« Teer und rostigem Metall aufhob, plötzlich »sone kleinen Funken« entdeckt.

Schüler Rex weiter: »Und dann Ist alles auf dem Pullover bei mir, aufs Bein und an die Hände. In meinem Pullover war ein großes Loch drinnen, und dann bin ich gleich ins Wasser gerannt.«

Der Junge hatte begriffen: Das »rostige Metall« war Phosphor, der sich an der Luft entzündet hatte. Feuerwerker holten an der Unglücksstelle vier Zentner »Gewehrpatronen mit Brandsatz« (so eine offizielle Landesmitteilung) aus dem Wasser.

Die mutmaßliche Herkunft des Treibguts: riesige Wehrmachts-Munitionsdepots, die durch Briten und Sowjets von 1945 bis 1948 in der Ostsee versenkt wurden. So warfen die Sowjets bei Gotland und Bornholm 200 000 Senfgasgranaten ins Meer, die Engländer versenkten in Küstennähe -im Kleinen Belt, vor der Kieler Förde und in der Lübecker Bucht -- Munition vielfach unbekannten Typs. Niemand weiß bislang, ob es sich dabei etwa -- wie bei 70 000 Granaten, die 1957 vor der Flensburger Förde entdeckt wurden -- auch um das hochwirksame Nervengas Tabun handelt.

Auf der Suche nach derlei unbewältigter Vergangenheit machte »Panorama«-Redakteur Eberhard Hollweg, 40, an der Wasserfront Ostseefischer wie Willy Matzeit ausfindig, der im letzten April bei Bornholm eine Senfgasgranate an Bord seines Kutters »Anneliese« hievte und für drei Tage erblindete.

Anders als die Beteiligten an Munitionsunfällen auf und an der Ostsee äußerten sich zuständige Bundes- und Landesinstitutionen nur einsilbig zur Sache. Merseburger präsentierte mit Hollwegs Tabun-Thema ein Tabu-Thema, »weil sich die Behörden unverständlicherweise in Schwelgen hüllen« -- so der »Panorama«-Chef. Am Tage nach der Sendung aber wurde das Kieler Schweigen gebrochen -- von Ministerpräsident Helmut Lemke (CDU).

Der Landesvater« um die Jahresbilanz der heimischen Touristik-Industrie besorgt, ließ sich am Dienstag letzter Woche von Gerd Kramer, Geschäftsführer des schleswig-holsteinischen Fremdenverkehrsverbandes« ein düsteres Panorama eröffnen. Aus Dahme, Kellenhusen, schließlich aus nahezu allen Ostseebädern hatten Kramer erzürnte Kurdirektoren angerufen und sich über den »Panorama«-Bericht erregt.

Beim Fremdenverkehrsdirektor in Grömitz hatte ein westdeutscher Anrufer nachgefragt, ob »sämtliche Krankenhäuser Schleswig-Holsteins überfüllt« seien.

Lemke, nun seinerseits erzürnt, entschied sich für entschlossenes Händeln -- durch seinen Pressechef, Staatssekretär Arthur Rathke (CDU). Der frühere Bonner CDU-Sprecher fabulierte fernschriftlich an die »Tagesschau« in Hamburg: »Derartige Verletzungen ... können leider überall vorkommen«, wo der Krieg »seine Spuren hinterlassen hat«.

»Tagesschau«-Chef Hartwig von Mouillard lehnte es ab, das -- als »Panorama«-Berichtigung gemeinte -- dilettantische Kieler Papier zu senden. Mouillard: »Die 'Tagesschau' darf und wird kein amtliches Mitteilungsorgan sein.

Daraufhin ergriff Rathke-Parteifreund Ludwig Freiherr von Hammerstein, stellvertretender Intendant des Norddeutschen Rundfunks und von Intendant Gerhard Schröder (SPD) mit der Angelegenheit beauftragt, eine Maßnahme ohne Beispiel in deutschen Fernsehanstalten: Er ließ den Rathke-Kommentar im Anschluß an die »Tagesschau« als amtliche Verlautbarung verlesen.

Ein Satz freilich fehlte in der Durchsage: Die »Panorama«-Redaktion erhält ihre Darstellung, so Hollweg, »in allen Punkten aufrecht«.

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