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Medizin Tausend Tode

Aus Angst vor »Chemo-Ärzten« floh ein Vater mit seiner leukämiekranken Tochter ins Ausland. Krebsexperten nannten den Schritt »grob fahrlässig«.
aus DER SPIEGEL 47/1991

Aufgedunsen, fiebrig und mit zerfetzter Mundschleimhaut verließ Katharina Scharpf, 3, im Juli des Jahres die Ulmer Kinderklinik. Drei Monate lang war das blonde Mädchen chemotherapeutisch behandelt worden. Das Kind leidet an akuter lymphatischer Leukämie.

Mit aufgeplatzten Lippen, appetitlos und tief verängstigt sei seine geliebte »Schnecke« nach Hause gekommen, klagt Vater Alban, 33, ein Elektromeister aus Markt Rettenbach im Allgäu. »Es war die Hölle«, schildert die Mutter Hildegard die Nebenwirkungen: »Katharina schrie vor Schmerzen, übergab sich. Es brach mir das Herz.«

Vorletzte Woche kulminierte der Streit mit den behandelnden Ärzten: Der Vater stoppte die von ihm »Mord auf Raten« genannte Chemokur und versteckte das Kind. Die Ulmer Mediziner bewirkten beim Amtsgericht Memmingen den Entzug des Sorgerechts. Alban Scharpf setzte sich daraufhin mit seiner Tochter in die USA ab.

»Sie haben keine Spur von Krebs mehr feststellen können und Katharina trotzdem wieder vollgepumpt mit Zytostatika«, erklärt der Familienvater die Flucht, »da blieb uns keine andere Wahl.« Das Kind sei während der Therapie »tausend Tode gestorben«.

Der Rechtsfall Scharpf - bislang einmalig in der Republik - hat unter Juristen und Medizinern für Aufregung gesorgt. Erstmals haben Richter nach Paragraph 1666 ("Gefährdung des Kindeswohls") Eltern das Sorgerecht entzogen, um eine chemotherapeutische Zwangsbehandlung durchzusetzen. Ohne Behandlung, so das Argument der Ulmer Onkologen, werde das Kind »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sterben«.

Dann, am Freitag vorletzter Woche, wurde der Gerichtsbeschluß wieder aufgehoben. Ein Aufschrei hatte die Medien erschüttert. Zudem gab der vermittelnde Rechtsanwalt bekannt, das Kind sei vom Vater in eine »Klinik mit Weltruf« im Ausland verbracht worden und werde dort betreut.

Die Odyssee ist jedoch nicht beendet. Am Dienstag letzter Woche erklärte Vater Scharpf in einem taz-Interview, er werde bald nach Deutschland zurückkehren; augenscheinlich hat er auch im Ausland keinen geeigneten sanften Therapieersatz finden können. Nun will er das Kind »daheim entsprechenden Fachärzten« übergeben. Eine erneute Chemotherapie schließt Scharpf jedoch aus. Seine Tochter sei als »Versuchskaninchen« mißbraucht worden: »Wir waren Spielball der Chemoärzte.«

Unter gefühligen Schlagzeilen geistert der dramatische Vorfall durch die deutsche Presse. Journalisten versuchten, die Geflohenen in den USA zu finden. Die taz (Überschrift: »Allein gegen die Götter in Schwarz und Weiß") rief zu Spenden für das kranke Kind auf. Die Zeitschrift Quick zeigte das kleine Mädchen pausbäckig und strahlend. Unterzeile des Bildes: »Katharina nach Abbruch der Behandlung: ein hübsches Mädchen, das wieder lachen kann«.

Doch die vom Vater gewünschte Leukämie-Kur ohne Nebenwirkungen gilt Medizinern, die auf die Behandlung dieser schrecklichen Erkrankung spezialisiert sind, als Hirngespinst. Kein Naturheiler, weder Misteltee noch anderer Tumor-Voodoo können die Entartung der weißen Blutkörperchen stoppen. Ohne zytostatische Behandlung führt Leukämie zum sicheren Tod.

Das tiefe Mißtrauen der Eltern gegen die Chemotherapie ist gleichwohl erklärlich. Nicht selten werden unheilbar kranke Krebspatienten noch auf dem Sterbebett ohne Sinn mit Zytostatika traktiert. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie, Dieter Kurt Hossfeld, räumt Fehler ein: »Die Chemotherapie ist oft unkritisch angewendet worden.«

Bei der Leukämie aber stehen die Heilerfolge durch Zytostatika außer Zweifel. Vorletzte Woche wurde im New England Journal of Medicine Bilanz gezogen. Von insgesamt 9720 leukämiekranken US-Kindern, die zwischen 1972 und 1988 behandelt wurden, überlebten 6644 den Blutkrebs - fast 70 Prozent. In Deutschland liegen die Heilungsquoten sogar noch etwas höher.

Die Therapie bedeutet eine enorme Belastung für die Familie. »Die Behandlung ist giftig und gefährlich, es können fast unmenschliche Situationen auftreten«, sagt Professor Kurt Winkler, der am Hamburger Universitätskrankenhaus pro Jahr etwa 30 leukämiekranke Kinder behandelt, darunter Säuglinge und Neugeborene.

Schuld an den Qualen der Kinder sind die krebshemmenden Zytostatika. Etwa zehn dieser Mittel stehen den Medizinern zur Verfügung. Alle sind toxisch und müssen genau dosiert werden.

Das aus der Pflanze Immergrün gewonnene Präparat Vincristin etwa, sagt Winkler, »lähmt die Aufteilung der Chromosomen«. Das Medikament Methotrexat verhindert die Wirkung eines Vitamins und entzieht so den Krebszellen gleichsam die Nahrung. Andere Zytostatika werden aus Bodenpilzen oder Bakterien gewonnen. Das Präparat Asparaginase enthält eine Substanz, die sich in Spuren auch im Spargel findet.

Im Prinzip seien Anwendung und Dosierung dieser hochgiftigen Mittel »weltweit standardisiert«, erklärt Professor Jörg Ritter vom größten Leukämie-Zentrum Europas, dem Universitätsklinikum in Münster. Als typische Nebenwirkungen der Leukämie-Präparate nennt er Nasenbluten, Haarausfall, Fieber, Gewichtsabnahme und Infektionen. Doch der Mediziner fügt hinzu: »Eine Alternative gibt es nicht.«

Ein vorzeitiger Abbruch der Kur führt fast immer zu Rückfällen. Schon nach vier Wochen Chemokur lassen sich im Mikroskop zwar keine Krebszellen mehr nachweisen. »Dennoch müssen wir noch weitere fünf Monate Terror im Blindflug praktizieren«, sagt der Onkologe Winkler. Dieser »Intensivbehandlung« schließt sich eine 18monatige Tablettenphase an.

Rund 600 Kinder pro Jahr erkranken in Deutschland an Blutkrebs. Um den Leidensdruck zu mindern, bieten alle 15 großen Therapiezentren des Landes eine psychosoziale Betreuung an. Meist werden die Mütter mit auf der Station beherbergt. »Das sind unsere besten Pflegerinnen«, sagt Winkler.

Der weltweite Erfahrungsaustausch zwischen den Leukämie-Spezialisten hat zu einer weitgehenden Vereinheitlichung der Behandlungstechnik geführt. Um den Blutkrebs mit Aussicht auf Erfolg zu bekämpfen, müssen die Ärzte jedoch stets an die Grenze der körperlichen Belastbarkeit gehen. »Ohne Leiden«, erklärt der Berliner Leukämie-Experte Günter Henze, »geht es nicht.«

Die 70prozentige Aussicht auf Heilung überzeugt fast alle Eltern von der Notwendigkeit des Eingriffs. Bisher kam es nur in Freiburg in zwei Fällen zu einem partiellen Entzug des Sorgerechts. Onkologe Winkler erinnert sich an zwei 17jährige, die nach starkem Haarausfall die Chemotherapie abbrachen, eine, wie er sagt, »sehr kurzfristige Rechnung«.

Wieso es in Ulm zum Eklat kam, ist strittig. Als Hochschwangere hatte Hildegard Scharpf ihre Tochter nach Ulm begleitet. Während Katharina ständig neue Zytostatika injiziert bekam, brachte die Mutter auf der Krebsstation ein Baby zur Welt. Über die Ärzte sagt sie: »Die sind gleich massiv geworden. Bevor Erklärungen kamen, wurde gedroht.«

Die behandelnden Onkologen Enno Kleihauer und Elisabeth Kohne suchen die Fehler bei den Eltern. Insgesamt dreimal sei der Therapieablauf auf Wunsch der Familie verschoben worden. Schließlich, als das Vertrauensverhältnis dahinschwand und die Zeit drängte, habe man sich auf Tübingen als Ausweichklinik verständigt. Von dort sei der Vater nach fünf Tagen Behandlung mit der Tochter geflüchtet.

Gingen die Ulmer Ärzte zu autoritär vor, oder waren die Eltern - in der Hoffnung auf alternative Heilverfahren - rationalen Argumenten nicht zugänglich? Klar ist nur das mißliche Ergebnis des Streitfalls. Der Therapiestopp könnte sich für Katharina als lebensgefährlich erweisen. »Psychisch gesehen«, sagt Onkologe Winkler, »ist das Verhalten der Familie erklärlich, aus medizinischer Sicht aber unverantwortlich.«

»Man darf nicht im Mitleid zerfließen« - so beschreibt der Berliner Onkologe Henze die gebotene »Vernunft des Herzens«, die er in ausführlichen Elterngesprächen zu vermitteln versucht. Wie alle seine Kollegen hat er nun Angst vor »Nachfolgetätern": »Wer nach drei Monaten die Therapie abbricht, setzt das Leben des Kindes aufs Spiel.« o

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