MUSEEN Tempelstadt für die Kunst
Ein Zauberberg spielt Freizeitpark. Wenn am 16. Dezember das Getty Center in Los Angeles fürs Publikum geöffnet wird, dann sollen die Leute sich da bitte einen zwanglos-schönen Tag machen, mal »ins Museum eintauchen«, aber auch »einen Happen essen und die Aussicht genießen«. Am allerliebsten würde Richard Meier, Baumeister der schönen neuen Szenerie, Kinder rufen hören: »He, das ist ja gar nicht wie ein Museum!«
Tatsächlich ist, was Meier, 63, da auf einen Hügelkamm am Rande der Santa Monica Mountains gesetzt hat, genau dies: eine feste Burg der Hochkultur aus europäischer Tradition, unangreifbar entrückt dem Lärm und Smog, den Verkehrsstaus und Straßenunruhen von Los Angeles, der Amüsierwelt von Hollywood und Disneyland ebenso wie der Turbulenz der aktuellen kalifornischen Kunstszene.
Besuchern des Getty Center wird der Sphärenwechsel gleich mit einer Art Initiationsritus eingeschärft. Wer hinauf will, muß seine Alltagshülle, das sonst so unentbehrliche Auto, am Fuß des Berges zurücklassen. Derart schon ein Stück geläutert, wird er sodann von einem Elektrobähnchen korrekt umweltfreundlich in die Höhe gezuckelt. Und wenn er oben ankommt, kann er nur noch glücklich sein, daß keine Blechlawine diese, wie Meier sagt, »Oase für Körper und Geist« verschandelt.
Seit die aus dem Nachlaß des Ölmilliardärs J. Paul Getty (1892 bis 1976) versorgte Kunst- und Kulturstiftung hier ein naturbelassenes Macchia-Gelände von rund 300 Hektar Fläche erwerben konnte, hat sie 14 Jahre gebraucht, um einen Bruchteil davon (9,7 Hektar) mit ihrem »Center« bebauen zu lassen, einer lockeren Gruppe von Museums-, Instituts-, Verwaltungs- und Servicegebäuden. Eine Milliarde Dollar ist in das Projekt geflossen. Jetzt zeigt sich: Zeit und Mittel sind nicht vertan. Die scheinbar unnahbare Tempelstadt ist zugleich ein idealer Ort für Flaneure - dank ihrer Lage und dank dem inspirierten Umgang des Architekten Meier mit dem Ort.
Vom Getty Center geht der Blick westwärts auf den 300 Meter tieferen Meeresspiegel des Pazifik, an der anderen Seite flutet der Verkehr einer zehnspurigen Autobahn durchs Tal, und in der Ferne erscheint bei klarer Sicht das Wolkenkratzerviertel von Los Angeles vor der Kulisse hoher Berge. Kein anderer öffentlicher Aussichtspunkt ringsum bietet solche Perspektiven, und Getty-Leute verweisen gern auf diese einzigartigen Blick-Verbindungen, wenn ihnen wieder einmal elitäre Abkapselung vorgeworfen wird. Gemessen an den Dimensionen der Riesenstadt, ist die Center-Talstation auch weder weit entfernt noch unzugänglich.
Oben auf dem Hügel zu bauen, um diesen Jahrhundert-Auftrag hatte sich eine Weltelite von Architekten beworben. Der Sieger, der New Yorker Meier, gilt unter Amerikanern als ein besonders europäisch geprägter »Modernist«; in Deutschland haben ihn sein Frankfurter Museum für Kunsthandwerk (1985) und das Stadthaus am Ulmer Münsterplatz (1993) bekannt gemacht. Kubus und Zylinder, Terrasse und Rampe, milchweiß emaillierte Fassaden sowie ein verschwenderischer Einsatz von großen Fenstern und offenen Durchgängen sind seine Markenzeichen.
Beim Getty Center freilich mußte der Stilkünstler viele Hürden nehmen. Nicht weniger als 130 Auflagen waren für die Baugenehmigung zu befolgen - von der Beschränkung in Baufläche und -volumen bis zu festgelegten Maximalhöhen (knapp 20 Meter), von der Vorschrift, allen Aushub wieder im Gelände selber abzuladen, bis zum Zwang, sich mit Weiß für diesmal zurückzuhalten.
Das hat Meier zeitweise sehr gewurmt. Aber rückblickend findet jedenfalls sein Partner am Ort, Michael Palladino, die Zahl der Klauseln entspreche eben dem Umfang und dem Anspruch der ganzen Unternehmung, völlige Freiheit genössen Architekten ohnehin nie. Und Not macht ja auch schöpferisch; sie hilft, Entwürfe zu klären und zu verfeinern. So wird das Besucherauge im Getty Center nun unter anderem durch einen dezenten Wechsel der Farben und der Oberflächenstrukturen beschäftigt.
Sockelmauern und gerade Museumswände beispielsweise streben, als wären sie kalifornisch erdgewachsen, im landschaftstypischen Gelbton und urtümlichrauh empor. Tatsächlich hat Meier italienischen Travertin in flache Platten spalten lassen und diese mit der Bruchfläche nach außen dem Stahlbeton vorgeblendet, was unter der ewigen Sonne dort abenteuerliche Licht- und Schattenspiele ermöglicht. Große Flächen solcher Machart können freilich auch seltsam wehrhaft wirken - ein Effekt zwischen Tannenberg-Denkmal und San Gimignano; andererseits entsteht an schmalen Pfeilern der falsche Eindruck, die von breiten Leerfugen gerahmten Megafliesen wären seitlich wegzuschieben.
Entscheidend aber: Das rauhe Mauerwerk tritt in Kontrast zu glattgeschnittenem Stein und zu jenem getönten Metall, das an gekurvten Flächen, an architektonischen Gelenkstücken sowie den übrigen Bauten außer dem eigentlichen Museumstrakt dominiert. Und schließlich blitzt hier und da, wo es keine empfindlichen Getty-Nachbarn blenden kann, nun doch das klassische Meier-Weiß hervor - besonders frech und frisch an der Hofseite des Research Institute für kunsthistorische Forschung, das seinen Dreiviertelkreis-Grundriß wie eine Knospe zum abfallenden Terrain hin öffnet.
Das Haus steht nicht gerade unzugänglich, aber doch ein wenig abseits des nahe liegenden Besucher-Parcours. Die zentrale Attraktion, das Getty Museum, erschließt sich durch ein lichtdurchflutetes Eingangsgebäude mit Ausblick auf einen Brunnenhof, um den vier Pavillons für die ständige Sammlung angeordnet sind. Von Epoche zu Epoche führt der Weg über verglaste Brücken oder auch über offene Terrassen - passend zu einem Klima, in dem Regenfälle und Temperaturstürze unter 20 Grad bereits als Wintereinbrüche gelten.
Immer wieder bietet Meier Ausblicke in die Landschaft an und lockt in den Garten hinaus, wo sich seine Architektur mit bastionsartigen Ausläufern, von ihm so genannten »Vorgebirgen«, ins Gelände krallt. Der Spaziergang führt um viele Ecken und leicht auch einmal in die Irre - immer balanciert die Klarheit des Meisters am Rande einer schönen Verwirrung.
Mit Balkon-Auskragungen, gitterartigen Vordächern, gerahmten Durchgängen, freistehenden Mauern und grazilen Feuerleitern hat er ein bißchen viel des Guten getan. Nur: Wo bliebe die Baukunst, wenn nicht, wie Palladino sagt, die »Prosa« der Bauherren-Forderungen mit einer Portion »Poesie« übersponnen würde? Im Glaszylinder des Museumsfoyers steigt eine Freitreppe empor, die der Besucher für den Gang durchs Haus zwar entbehren könnte, die ihm aber die wunderbare Anschauung eines fast barocken Aufschwungs vermittelt.
Über vieles hier könnte jener Mann, dessen peinlich mediokre Marmorbüste im selben Raum steht, weil er alles ringsum postum spendiert hat, gewiß nur staunen. Und vielleicht würde ihm mancher auf dem Hügel verbaute Dollar auch bitter leid tun: J. Paul Getty lebt in der Erinnerung Betroffener als ein Mensch von ebenso fanatischem Spartrieb wie Erwerbssinn fort. Doch mit ähnlichem Gespür und Wagemut wie beim Ölgeschäft hat er seit 1930 auch in Kunst investiert, vorwiegend klassischantike Skulpturen und französische Rokoko-Möbel gesammelt.
1954 öffnete er - steuersparend - jenes Haus in Malibu bei Los Angeles, in dem er seine Schätze hortete, für ein streng limitiertes Publikum. In den siebziger Jahren dann stiftete er nebenan ein Privatmuseum nach dem Architektur-Vorbild einer altrömischen Villa. Doch er starb auf einem südenglischen Adelssitz, ohne das anachronistische Kuriosum je erblickt zu haben.
Das Vermögen, das er der Stiftung hinterließ, macht deren Museum, seit ein Erbstreit mit der Verwandtschaft ausgestanden ist, zum konkurrenzlos reichsten der Welt, unschlagbar auf allen Versteigerungen der Welt. Durch Anteilsverkäufe und Kursgewinne noch wunderbar vervielfacht, wird das Vermögen heute auf über vier Milliarden Dollar geschätzt. Zur Wahrung der Steuerfreiheit müssen davon in drei von vier Jahren jeweils 4,25 Prozent satzungsgerecht ausgegeben werden.
Kein Wunder, daß glanzvolle Gemälde auch zu Rekordsummen erworben werden konnten: von Mantegna (10,4 Millionen Dollar) bis Manet (26,4 Millionen), von Cézanne (30 Millionen) bis Pontormo (35,2 Millionen) und zu jenen »Schwertlilien« van Goghs, mit deren Auktionspreis von 53,9 Millionen Dollar sich zunächst ein australischer Bierbrauer übernommen hatte. En bloc kamen die illustrierten mittelalterlichen Handschriften aus dem Besitz des deutschen Sammlers Peter Ludwig und mehrere Fotokollektionen ins Haus - darin zugleich die einzigen Werke aus dem von J. Paul Getty mißachteten 20. Jahrhundert.
Aber mit allem Reichtum der Welt ist eben heute kein Louvre und kein Metropolitan Museum mehr zusammenzukaufen. Um dennoch genügend Geld für ihre edlen Zwecke loszuwerden, hat die Getty-Stiftung Forschungseinrichtungen wie das »Research Institute« oder ein »Conservation Institute« gegründet; sie zahlt Stipendien, bildet Spezialisten aus, finanziert die Rettung gefährdeter Werke von Mexiko bis Benin und will den schmählich darniederliegenden Kunstunterricht an amerikanischen Schulen fördern. Jetzt nimmt ihr der Milliardenbau des Getty Center weitere Ausgabe-Sorgen ab.
Es fragt sich sogar, ob der Getty Trust auf Dauer nicht durch sein vielfältiges Engagement, als »Nervenzentrum, das in die ganze Welt ausstrahlt« (Stiftungspräsident Harold Williams), und durch Meiers spektakuläre Architektur viel mehr Gewicht bekommt, als ihm aufgrund der Sammlung zusteht. Die nämlich, so erweist sich, nachdem auch praktisch alles vorgezeigt wird, wofür die Villa in Malibu keinen Platz mehr bot, ist schön und bemerkenswert, wirklich überragend aber ist sie noch lange nicht. Das Norton Simon Museum im nahen Pasadena beispielsweise sticht sie an Spitzenwerten und an Geschlossenheit aus, es kann nur mit keinem vergleichbaren Ambiente dienen.
In den Getty-Schausälen gibt sich denn auch die Architektur viel braver als in den Vorräumen oder unter freiem Himmel. Meier hat die Museumspavillons als solide, quaderförmige Container entworfen, mit wohltuenden Raumproportionen und in den Obergeschossen, wo die Gemälde hängen, mit Deckengewölben für ein ausgeklügeltes, computergesteuertes Lichtsystem. Gegen den Wunsch der Museumsleitung nach Wandbespannungen und Paneelen war er so machtlos wie gegen die Gesimse und Draperien, die der New Yorker Innenarchitekt Thierry Despont für die Kunstgewerbe-Abteilung im Erdgeschoß nachempfinden durfte.
Hält die Burg? Die Frage drängt sich im erdbebenbedrohten Los Angeles auf. Architekt Palladino ist sich der soliden Bauweise so sicher, daß er beim gefürchteten großen Stoß am liebsten »im Getty Center sein möchte« - durchaus nicht, um in Schönheit zu sterben. Die Travertin-Platten an den Fassaden sind auch deshalb mit dermaßen breiten Fugen montiert worden, damit ihnen für den Fall des Falles genügend Spielraum bleibt.
Im Research Institute haben indessen die Bibliothekare ihre Schätze Reihe für Reihe mit einer Art Reling gesichert. Das größte Beben der letzten Jahre, das von 1994, hatte ihnen, noch unten in der Stadt, die Bücher einfach aus den Regalen geschüttelt.
* Links oben: Museumskomplex; rechts oben: Research Center.* Oben: französische Rokoko-Möbel; unten: mit Gemälden vonSebastiano del Piombo und Dosso Dossi.