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AM RANDE Teuflischer Doppelsinn

aus DER SPIEGEL 12/1997

Sein oder Nichtsein, das ist allerorten die Frage. Hamlet gibt, nach getanem Monolog, seiner Ophelia den Abschied: »Geh in ein Kloster«, spricht er zu ihr, »get thee to a nunnery« im Original. Und da fangen die Probleme des Übersetzens schon an: »Nunnery« meinte, teuflischer Doppelsinn, zu Shakespeares Zeiten auch Bordell.

Deutschlands Literatur-Übersetzer sind gegenwärtig weniger mit Klostergeheimnissen als mit Sein oder Nichtsein beschäftigt. Am Donnerstag dieser Woche, bei der Leipziger Buchmesse, wollen die Dolmetscher des Schönen mit einem »Memorandum« Alarm geben: Sie »rutschen wirtschaftlich immer mehr ins Abseits«.

Das Abseits sieht so aus: 35 Mark erzielt der Übersetzer günstigstenfalls pro Manuskriptseite; vier Seiten pro Tag schafft er; nach Abzug aller Nebenkosten bleiben ihm vor Steuern 2000 Mark monatlich. Es möchte kein Hund so länger leben (Goethe).

Dabei gibt es Arbeit bergeweise. Fast jedes zweite Belletristik-Buch, das in Deutschland erscheint, kommt aus fremden Landen. Deutschland, industriell ein Exportland, ist literarisch ein Importland geworden; das Wort Kultur-Standort Deutschland hat einen Beigeschmack von Wehmut.

Es sei schwer, einen deutschen Prosaband zu finden, »den man im Ausland empfehlen kann«, so klagt etwa, im jüngsten buchreport, der Literatur-Professor Alexander von Bormann; es gebe zu wenige Titel, die »internationalen Rang« haben. Kann natürlich auch sein, daß es schon am nationalen Rang hapert, weil die Autoren ihrer Landessprache nicht mächtig sind.

Tatsächlich ist es ein verführerischer Gedanke, die geballte Macht der deutschen Dolmetscher auf die deutsche Gegenwartsliteratur anzusetzen; krumme Sätze, wolkige Sentenzen, grammatische Kapriolen ins geliebte Deutsch übertragen zu lassen und darauf zu achten, daß das rechte Wort gewählt werde.

Das ergäbe auch mehr deutsche Politiker, die man im Ausland empfehlen kann. In seiner Neujahrsansprache etwa verirrte sich der Bundeskanzler zu dem unvergänglichen Satz: »Gott segne unser deutsches Vaterland.« Jeder Ausländer mußte da grübeln: Hat der Mann denn noch ein Vaterland, das nicht deutsch ist? Oder ihm nicht gehört? Sein oder nicht sein? Das war hier die Frage.

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