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ATOM-ENERGIE Teurer Zwang

Ausweg aus der Energie-Klemme oder Irrweg der Reaktortechnik? In Kalkar am Niederrhein soll für zwei Milliarden Mark Westdeutschlands erster Schneller Brüter gebaut werden.
aus DER SPIEGEL 52/1971

Im Märchen ist es einfach. Der Esel frißt Hafer und läßt -- bricklebrit -- Dukaten fallen.

In Schewtschenko am Kaspischen Meer schicken sich nun sowjetische Wissenschaftler an, eine Maschine nach eben diesem Goldesel-Prinzip in Gang zu setzen. Sie bauten als erste den Prototyp eines sogenanhten Schnellen Brüters -- eines Atomreaktors, der mehr Kernbrennstoff erzeugt, als er verbraucht.

Drei Jahrzehnte währt nun die häufig enttäuschende -- Vorarbeit der Wissenschaftler für das vielversprechende Verfahren. Schon 1943 machte der Physik-Nobelpreisträger Enrico Fermi den Vorschlag, diese Möglichkeit der Energiegewinnung zu nutzen.

Ernst machen damit wollen auch die westdeutschen Reaktorforscher. Letzte Woche gab die für Betriebssicherheit von Atommeilern zuständige Kommission in Bonn ihr Plazet für das Konzept des ersten westdeutschen Schnellbrüter-Prototyps. Anfang kommenden Jahres, so steht zu erwarten, wird das Land Nordrhein-Westfalen dem Baubeginn zustimmen.

Damit hoffen die Deutschen im internationalen Wettlauf der Brüter-Programme einen guten Platz im Mittelfeld zu erringen. In Führung sind »die Russen, die ihren Sieg nun sogar mit von Briten bezahltem Sekt werden begießen können -- Preis einer Sieg-oder-Platz-Wette, die Peter Mummery, Chef des britischen Schnellbrüter-Projekts Dounreay, mit seinen russischen Kollegen einging.

Mit 350 Megawatt Leistung (Spitzenbedarf in Hamburg: etwa 1000 Megawatt) soll der erste sowjetische Brutreaktor Elektrizität erzeugen und außerdem noch Meerwasser entsalzen. Ein zweiter, für 600 Megawatt ausgelegter Schneller Brüter ist unterdessen schon im Bau.

Doch längst hat das Energie-Goldfieber auch die meisten anderen großen Industrienationen ergriffen. Sie sind bei dem Versuch, im kommenden Jahrzehnt die Schnellen Brüter in großem Stil betriebsbereit zu machen, den Russen damit auf den Fersen:

* Für 250 Megawatt Leistung ist der britische Prototyp konzipiert. Die Anlage in Dounreay an der nordschottischen Küste soll voraussichtlich Ende nächsten Jahres anlaufen.

* Ebenfalls 250 Megawatt Leistung erwarten die Franzosen von ihrem Brüter- Modell »Phénix«, das nach Plan 1973 den Betrieb aufnehmen würde.

* Japan baut zur Zeit einen Testreaktor; die Errichtung eines Prototyp-Brüters ist von 1973 an vorgesehen.

* Für die amerikanische Brüter-Entwicklung hat Präsident Nixon Vorrang ("high priority") verfügt. Da die USA gegenwärtig ihre veralteten Atombomben und Raketensprengköpfe demontieren, stehen sie vor einem Plutonium-Berg, den nur Brüter weiterverwerten könnten. Gebaut wird derzeit ein leistungsfähiger Testreaktor; der Bau von mehreren Prototyp-Kraftwerken wird für 1973 oder 1974 erwartet.

Die Anlage der Bundesrepublik schließlich soll -- mit Beteiligung von Belgien, Holland und Luxemburg, von Bonn zu 70 Prozent finanziert -- in Kalkar bei Kleve am Niederrhein entstehen und 300 Megawatt Leistung erbringen. Allerdings wird der Probebetrieb dieses Schnellbrüter-Prototyp-Kraftwerkes SNR 300 frühestens 1977 beginnen können. Gleichwohl hoffen auch die Deutschen, den internationalen Standard zu erreichen.

»Eine unabhängige und krisenfeste Möglichkeit der Energieerzeugung« erwartet Professor Wolf Häfele, Leiter des Projekts Schneller Brüter am Kernforschungszentrum Karlsruhe, von dem neuartigen Reaktortyp. Den Entwicklungsstand der Bundesrepublik ordnet er ein »zwischen England und Frankreich einerseits, die einen zeitlichen Vorsprung haben, und den USA und Japan«.

Doch angesichts der bisherigen Mängel im westdeutschen Brüter-Programm scheint solche Hoffnung eher zu optimistisch. So hatte ursprünglich mit dem Bau des SNR 300 bereits 1969 begonnen werden sollen. Doch Schwierigkeiten ergaben sich vor allem bei der Entwicklung der Brennelemente, die im Reaktor einem zerstörerischen Neutronen- Bombardement ausgesetzt sind. Und als schwer zu beherrschen erwies sich auch das exotische Kühlmittel, metallisches Natrium, das in flüssig-heißem Zustand die durch Kernspaltung erzeugte Hitze auf den Dampfkreislauf des Kraftwerks übertragen soll.

In drei Jahren Bauzeit ließen die Karlsruher Forscher eine Testanlage für Brennelemente errichten. Aber dieser Testkreislauf, im Fachjargon »Loop« genannt, wird nun nicht gebraucht. »Unsere Stoßrichtung«, bekannte Häfele, »hat sich verändert.« Vertaner Aufwand: etwa zehn Millionen Mark.

Der anfangs für den SNR 300 vorgesehene Standort Weisweiler bei Aachen wurde von der Reaktor-Sicherheitskommission in geheimer Beratung verworfen -- wegen der »Möglichkeit von Störanfällen«. Den nun wahrscheinlichen Entschluß, in Kalkar zu bauen, stützt ein fast zynisch anmutendes Argument: Dort wohnen im Umkreis von fünf Kilometern weniger als 15 000, im Umkreis von zehn Kilometern weniger als 40 000 Menschen.

Noch 1970 kalkulierte Häfele die Kosten für das Prototyp-Kraftwerk auf weniger als eine halbe Milliarde Mark. Inzwischen galoppierte Inflation über die Pläne. »Die deutsche Schnellbrüter-Entwicklung bis zum SNR 300«, kündigte der Projektleiter im September an, »verlangt Aufwendungen von insgesamt etwa zwei Milliarden Mark.«

Umgerechnet 13 Milliarden Mark, so schätzen hingegen amerikanische Experten, müßte die US-Regierung aufwenden, wenn bis 1985 ein serienreifer Schnellbrüter entwickelt sein soll. Doch auch wenn es noch teurer würde -- die großen Industrienationen wissen sich unter Zwang.

Schon läßt sich abschätzen, daß die Erdöl-, Erdgas- und Kohlevorräte der Erde in wenigen Generationen erschöpft sein werden. Der Energie-Bedarf jedoch steigt hektisch, in der Bundesrepublik beispielsweise bis zum Jahr 2000 mutmaßlich auf das Vierfache. Atomkraftwerke vom Brüter-Typ sollen dann 50 Prozent des Stroms liefern.

Da der Vorrat an Uran-Brennstoff, wie er für die Atomkraftwerke der ersten Generation gebraucht wird, gleichfalls begrenzt ist, könnten auf die Dauer tatsächlich nur Brutreaktoren die bevorstehende Energielücke füllen: Sie verwandeln sonst nicht spaltbares Uran in spaltbares Plutonium, und zwar in größerer Menge, als zum Betrieb des jeweiligen Reaktors erforderlich ist.

Noch ist allerdings ungewiß, ob die Forscher mit dem natriumgekühlten Schnellbrüter den richtigen Entwicklungsweg eingeschlagen haben. Und ungewiß ist auch, ob nicht Strahlungsgefahr, radioaktive Rückstände oder die Aufheizung der Flüsse durch das Kühlwasser unzumutbare Gefahren für die Umwelt darstellen.

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