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Theater: Medea als Feministin

aus DER SPIEGEL 48/1976

Anfangs war die Frankfurter »Medea« ein lokaler Theaterskandal. Regisseur Hans Neuenfels, immer für einen Publikumsschock gut, hatte die Frauen-Tragödie des Euripides, in dem eine vom Gatten verlassene Ehefrau ihre Kinder mordet, mit -- wie es schien -- zeitgemäßem Schmuck wie Päderastie und Penis, mit Kastration und Kraftausdrücken (Medea: »Ich arme Sau") ausstaffiert -- und das Premierenpublikum reagierte wie erwartet: Einige gingen vorzeitig, andere buhten, andere klatschten.

Den Rest besorgte die Kritik: Ausnahmslos rupfte sie die Inszenierung, wobei Peter Iden in der »Frankfurter Rundschau« sein Verdikt am weitesten trieb: »Die Aufführung ist sinnlos, widerwärtig, tatsächlich ekelhaft.«

Daraufhin schien die »Medea« der übliche Theatertod zu erwarten: Das Frankfurter Schauspiel nahm, geschreckt durch die Reaktionen, die Inszenierung aus dem Abonnement und überantwortete sie so dem freien Verkauf -- angesichts der ohnehin oft ausMit Elisabeth Trissenaar als Medea II.).

gedünnten Frankfurter Theaterreihen war ein schnelles Ende abzusehen.

Doch dann kam alles anders. Die »Medea« läuft, meistens ausverkauft, an der Kasse bilden sich Schlangen -- ein für Subventionsbühnen ungewohnter Vorgang. Und nach den Vorstellungen drängt es das Publikum Abend für Abend zu Diskussionen.

Als das Frankfurter »Medea«-Ensemble dann am vorvergangenen Sonntag um elf Uhr zur Diskussion mit den Kritikern rief, füllte sich der Zuschauerraum auch zu dieser ungewohnten Stunde, wurde der Kritiker Iden immer wieder ausgebuht und angegangen -- die Diskussion dauerte, im Foyer fortgesetzt, bis gegen vier Uhr nachmittags, so viel Theater ums Theater gibt es im gewohnten Kulturabspeisungsbetrieb kaum.

Auffallend an dem Fall der »Medea« ist zunächst, wie sich hier gegen die geballte Kritik, gegen Abonnenten-Erwartungen, gegen eine halbherzig engagierte und daher leicht abzuschreckende Theaterleitung eine Aufführung durchsetzt, sich auf eigene Weise die Öffentlichkeit schafft, die sie braucht.

Auffallend ist weiter, daß der Theater-Ärger wie das Theater-Interesse sich (ähnlich wie im Fall des Hamburger »Othello") an Stücke längst abgelebter, also sogenannter klassischer Autoren knüpft, bei denen ein Teil des Publikums vermutet, sie würden durch inszenatorische Gewaltakte geschändet, ein anderer Teil des Publikums entdeckt, wie da, im Falle der »Medea«, ein über 2000 Jahre altes Stück seine Sache abhandelt.

Denn das ist das Merkwürdige an der Neuenfels-Inszenierung und ihrer Wirkung: Das Drama des Euripides wird schlüssig, zwingend, unverfälscht »erzählt« und wirkt gerade in der wiederhergestellten archaischen Schroffheit wie eine krasse Parabel zum Thema heutiger Frauenunterdrückung und Geschlechterfeindlichkeit.

Die »Medea« des Euripides (die erschreckend intensive Elisabeth Trissenaar bringt sicher auch ihr Eheverhältnis zu Neuenfels und die damit verbundene allgemeine Spannung zwischen Partnern in die Rolle ein) lagert als verstoßene Fremde seit Jahren vor Korinth. Ihrem Mann Jason hat sie ihre Heimat und ihre Vergangenheit geopfert; nun, nach der Rückkehr vom Krieg, hat der Mann sie gegen die korinthische Königstochter eingetauscht.

Bei Neuenfels spielt das Stück vor dem Vorhang auf rohen Brettern, die ins Publikum geschoben sind als sollten Frankfurts Zuschauer die gleiche unbequeme Behelligung erleiden wie einst die ordentlichen Griechen in Korinth von der barbarischen Fremden.

Neuenfels und sein Ensemble sind in langen intensiven Proben wohl auch darüber erschrocken gewesen, wie sieh die verqueren sexuellen Erfahrungen des Stucks (ein so unverdächtiger Zeuge wie Siegfried Melchinger deutet in seinem Euripides-Buch den Athener König Aegeus als von der Impotenz Heimgesuchten) in gesellschaftlichen Zwangslagen und den daraus resultierenden Gewaltakten entladen.

Anders als in anderen Neuenfels-Inszenierungen, wo sich seine privatistischen Bedrängungen und Obsessionen den Stücken oft nur gewaltsam aufpfropften, ohne sie zu erklären, erläutert hier das sexuelle Alptraumvokabular ein Stück ohne äußere Gewalt.

Wenn also der Bote der Medea von der grausigen, durch sie veranstalteten Ermordung der »Konkurrentin« berichtet, dies mit erigiertem Glied tut und sich anschließend blutig kastriert, so ist das kein Neuenfelsscher Zwangs-Gag, sondern Ausdruck der Tatsache, wie Schrecknisse voyeuristische Lüste freisetzen. Und wie eine Frau, von der Männerwelt aufs tiefste verletzt, durch das Verbrechen zeigt, (laß sie nicht mehr mitspielt und allein dadurch die Männer schon bei Euripides in Potenzängste treibt.

So diskutieren nach den- »Medea«-Aufführungen in Frankfurt auch Zuschauer, als handle es sich bei dein Stück um eine Männergruppe, die ä la Pilgrim Selbstbescheidung einübt, oder um Frauengruppen, die à la Schwarzer in dem Verbrechen der »Medea« das tragische Fanal für ihre Probleme sehen.

Dabei erhitzen sich Leute über ein Stück, das mehr als hundertmal so alt ist wie sie selbst, und diskutieren das Schicksal der Medea, als handle es sich um ihre Nachbarin .- nicht das schlechteste Ergebnis, das Theater bewirken kann.

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