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Maler Tizian des Techno

Er bemalt Surfbretter, hüpft durch Leinwände und lädt zu Museumspartys: Der Berliner Jim Avignon gilt als Pionier einer neuen Pop Art.
aus DER SPIEGEL 35/1995

Wenige Sekunden genügen, um das Werk eines ganzen Tages zu zerstören. Jim Avignon legt den Pinsel beiseite - und dann springt er beherzt durch die drei mal sechs Meter große Leinwand.

Der Zerstörungstrick, mit dem Avignon, 29, schon die Besucher der Kasseler »documenta« vor drei Jahren verwirrte, gehört zum festen Repertoire des Berliner Künstlers: »Meine Bilder sind nicht für die Ewigkeit«, behauptet der Maler.

In Kassel war Avignon noch ein ungebetener Zaungast, der seine Destruktionsarbeit außerhalb des offiziellen Programms vor dem Museum Fridericianum verrichtete. Mittlerweile aber gilt der eigensinnige Artist, der sich selbst als »Deutschlands verrücktester Maler« bezeichnet, als Pionier einer neuen Pop-Art-Generation - seine Fans nennen den Mann den »Tizian des Techno«.

Kunst und Musik miteinander zu verbinden ist Avignons Grundsatz: Angefangen hat er in der Berliner Szene, wo er bis heute die Cover des »Downbeat«-Labels gestaltet. Sein Ruhm wuchs mit dem Aufstieg des Techno zur stilprägenden Jugendkultur der neunziger Jahre. Bei der jüngsten Berliner Love-Parade gehörte der von ihm entworfene Leit-Wagen an der Spitze des Umzugs zu den Attraktionen.

Bei seinen Ausstellungen fordert Avignon die Besucher schon mal auf, eine Schere mitzubringen und sich ein Stück vom Kunstkuchen abzuschneiden - oder er verschenkt gleich alle Exponate. »Ich will einen anderen Markt schaffen - für Leute, die maximal 200 Mark ausgeben können«, sagt er.

Avignon arbeitet ohne Galeristen - und mitunter in Rekordgeschwindigkeit: Für eine House-Party im Hamburger »Gaswerk« durfte er die Dekoration besorgen - ein Tag genügte ihm, um die zehn überdimensionalen Papierbahnen fertigzustellen.

Seine schnelle Arbeitsweise und diverse Stilelemente hat Avignon mit den New Yorker Graffiti-Stars der achtziger Jahre, Keith Haring und Jean-Michel Basquiat, gemein. Ebenso wie Haring und Basquiat ist dem Berliner mittlerweile der Umzug aus dem Untergrund in die etablierten Museen gelungen. Für die Frankfurter »Schirn«-Kunsthalle inszenierte Avignon zu Jahresbeginn ein Happening der besonderen Art: Er lud 800 Personen zu einer »Art-Groove«-Party. Für 15 Mark Eintritt durften die Gäste nicht nur die 800 »speziell für Frankfurt« hergestellten Kunstwerke bewundern, sondern eines auch sofort mit nach Hause nehmen.

»Ausstellungen sollten wie Popkonzerte sein«, lautet die Maxime des Künstlers, »es kann doch nicht angehen, daß Tausende von Leuten zu Konzerten pilgern, während die Galerien und Museen gähnend leer sind.«

Gemeinsam mit zwei befreundeten Computerspezialisten hat er Programme entwickelt, die auf seinen Bildern basieren. Die Sounds dazu nahm er selber auf - und blieb seiner Preispolitik treu: Die »Jump & Run«- und »Memory«-Spiele kosten acht Mark pro Diskette.

Beim Surf-Weltcup auf Sylt stellt er im September am Westerländer Schickeria-Strand der Nordseeinsel bunte Totempfähle auf - aus Surfbrettern. Sie werden nur wenige Tage zu sehen sein: Jim Avignons Werke sind nicht für die Ewigkeit. Y

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