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KINO Tod im Paradies

Sechzig Jahre nach seinem rätselhaften Selbstmord in Brasilien entsteht ein Thriller über die letzten Tage Stefan Zweigs, des damals weltweit erfolgreichen deutschsprachigen Autors - mit Wenders-Star Rüdiger Vogler in der Hauptrolle. Von Matthias Matussek
Von Matthias Matussek
aus DER SPIEGEL 12/2002

Fremder kann er sich gar nicht fühlen als in dieser Rolle, in diesem Film, in diesem Land. Womöglich ist Rüdiger Vogler deshalb die Idealbesetzung. Er spielt den Schriftsteller Stefan Zweig, in dessen letzten brasilianischen Tagen.

Rüdiger Vogler steht in dieser Millionärs-Villa aus dem 19. Jahrhundert über Rio de Janeiro, einen weißen, weichkrempigen Panama-Hut in den Händen, wie verloren in diesem eleganten Gartensalon, und dahinter das wuchernde, dampfende Grün des Tijuca-Nationalparks.

»Es wird ein Kunstfilm«, sagt er in einer Drehpause, »eine Art Thriller«, wer weiß das schon genau, was hier entsteht. Klar ist nur eines: Es ist ein Film über das Fremdsein. Rüdiger Vogler spricht wie Wim Wenders' Doppelgänger. Er schließt den Mund nach jedem Wort. Bedachtsam. Umständlich. Freundlich. Er ist im Hotel »Gloria« in Botafogo untergebracht, er vermisst seine Familie in Paris, und er zählt die Tage bis zur Heimkehr.

Stefan Zweigs »Schachnovelle« kennt er, klar, und auch sein Buch »Brasilien - Land der Zukunft« hat er gelesen. Doch er hat wenig mehr vom Land gesehen außer den Drehorten in Rio und Petrópolis, wo Zweig wohnte in seinen letzten Tagen.

Er spricht die Sprache nicht, ihm ist diese Stadt zu laut, zu grell, zu heiß. Tatsächlich wirkt Vogler, in seinem altmodischen Leinenanzug, wie ein Verlorener - »Lost Zweig« heißt der Film, in dem er spielt.

Sechzig Jahre nach Stefan Zweigs Selbstmord nun dieser Film über seinen Tod. Und Rüdiger Vogler sitzt vor den blauen portugiesischen Kacheln des Palácio im Tijuca-Wald und raucht eine weitere Zigarette, und Ruth Rieser, die seine Frau spielt, will »etwas sagen mit ihrer Rolle«, aber was es genau ist, bleibt undeutlich.

Vielleicht liegt es daran, dass sie alle englisch reden in diesem Film, auch die brasilianischen Schauspieler, denn die Produktion ist für den internationalen Markt gemacht.

Rüdiger Vogler scheint abonniert zu sein auf Charaktere, die aus der Welt fallen. Er ist zur Kultfigur geworden in Wim Wenders' schwarzweißem Roadmovie »Im Lauf der Zeit« von 1976, so sehr, dass ihn ein Fan einst um ein Autogramm in seinen Pass bat. »Ich bin du«, sagte er.

Wie merkwürdig, sich an einem drehfreien Tag noch einmal mit ihm diesen Siebziger-Jahre-Kultfilm anzuschauen. Diese langen Fahrten. Dieses Pathos des Verlorenseins, und das, was man »Beziehungsprobleme« nannte.

So was fand man tatsächlich einmal gut? Doch gleichzeitig ist es ein Film voller magischer Momente, voller wunderschöner Bilder. Ein Film, der Zeit hat, und Rüdiger Voglers Lächeln, seine Anti-Helden-Leichtigkeit, die tatsächlich genau das weitergibt, was man das innere Leuchten eines Menschen nennen könnte und bei den Computerfilmen von heute kaum noch findet.

Rüdiger Vogler, mittlerweile 59, hat die große Welt-Karriere nicht gemacht. Er hat in weiteren Wenders-Filmen gespielt und ist mit einer Französin verheiratet und ist heute in Frankreich bekannter als in Deutschland. Er wirkt verletzbar, ratlos, kompliziert, geheimnisvoll - vielleicht ist sein Regisseur deshalb davon überzeugt, die ideale Besetzung für seinen Drei-Millionen-Euro-Film gefunden zu haben, der von brasilianischen Firmen und Kultursendern budgetiert wird.

»Zu neunzig Prozent ist dieser Film die Besetzung mit Rüdiger Vogler«, sagt Sylvio Back, mit durchaus kalkulierter Bescheidenheit. »Neun Prozent muss Vogler noch zusätzlich leisten - das restliche Prozent besorge ich selber.«

Regisseur Sylvio Back hatte bereits 1995 eine Dokumentation über die letzten Tage Stefan Zweigs gedreht. Er hatte Zeitzeugen zu Wort kommen lassen und Weggefährten des Autors befragt, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das sich doch nie lüften lässt: Warum begeht ein Mensch Selbstmord? Jetzt sucht er die Antwort mit den Mitteln eines Spielfilms.

Noch immer ist Stefan Zweig einer der meistgelesenen und international erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. »Sein literarischer Ruhm reichte bis in die letzten Winkel der Erde«, schrieb Thomas Mann einst bewundernd. Mit seinen »Sternstunden der Menschheit«, seinen großen Biografien über Marie Antoinette oder Magellan, seinen Essays und dem Roman »Ungeduld des Herzens« war er der Sidney Sheldon der dreißiger Jahre, ein Bestseller-Autor.

Wenig bekannt aber ist, dass Zweig die letzten Monate seines Lebens in Brasilien verbrachte, dass er hier seine wohl beste Erzählung, die »Schachnovelle«, schrieb und die bewegenden Lebenserinnerungen »Die Welt von gestern« vollendete.

Stefan Zweig hatte das Land zum ersten Mal 1936 betreten, eigentlich nur ein Abstecher, eine Zwischenstation auf dem Weg nach Buenos Aires, wo er an einem Pen-Kongress teilnehmen sollte. Er wurde in Rio empfangen wie ein Staatsgast. »Ich werde ins Copacabana Palace gebracht, wo ich eine Flucht von Zimmern bewohne, den Blick auf den Strand, der herrlicher ist als alle Badeplätze Europas, weich und sandig tief und ganz unter dem grünen Leuchten des Meeres.« Als sein Aufenthalt zu Ende geht, notiert er: »Ich könnte heulen wie ein Schlosshund.«

In Brasilien, so hatte er auf seiner Reise erfahren, ist er der meistgelesene europäische Autor, und das ist für jeden Schriftsteller die Währung, in der sich Liebe ausdrückt. In Deutschland dagegen werden seine Bücher verbrannt von den Nazi-Horden, und Österreich bereitet sich auf den Anschluss vor und jagt Juden und ekelt sie aus dem Land und enteignet am Ende noch ihren Besitz.

Zweig verkauft sein Haus in Salzburg weit unter Preis, und er sieht es ein letztes Mal aus dem Zugfenster, als er das Land für immer verlässt - zunächst nach London, dann nach New York.

Doch seine Liebe heißt Brasilien. Es ist eine naive begeisterte Verliebtheit in diese bunte Gegenwelt, in der die Bäume schwer sind von Früchten und aus jedem Samenkorn Leben sprießt und die Rassen in Harmonie miteinander sind. Es ist der Blick eines Träumers, der dem Schlachthaus entronnen ist.

Und mit diesem Blick schreibt Stefan Zweig, der 1940 nach einer weiteren Lateinamerika-Tournee wieder nach Brasilien zurückkehrt und das Riesenland bereist, seine Liebeserklärung »Brasilien - Land der Zukunft«. Er kann es allerdings erst nach seiner Rückkehr im Januar 1941 nach New York fertig stellen, da ihn die gesellschaftlichen Verpflichtungen in Rio an konzentrierter Arbeit hindern.

Zweig schreibt keinen Reiseführer, kein soziologisches Unternehmen, sondern in Wahrheit eine der großen Utopien der Literatur, einen Gegenentwurf, der sich lediglich der Farben und Düfte bedient, die er seit seinem ersten Besuch mit sich trägt. Von der Kritik wird dieses Buch sehr verhalten aufgenommen. Natürlich bedient es die patriotische Eitelkeit - einerseits.

Andererseits aber finden die brasilianischen Journalisten, dass Zweig ihr Land aus den falschen Gründen lobe. Sie wollen nichts über die »Herzensgüte des Volkes« lesen, sondern über die Modernität ihrer Hauptstadt Rio und deren Wolkenkratzer. Dennoch: Das Publikum liebt ihn.

1941, das Buch ist gerade erschienen, siedelt Zweig ganz um - nicht ins brodelnde Rio, sondern nach Petrópolis, das abgeschiedene Nest in den Bergen.

Warum hat Stefan Zweig, der sich doch in ein tropisches Paradies gerettet zu haben schien, seinem Leben ausgerechnet hier ein Ende gesetzt? Warum legte er sich hier, als 60-Jähriger, mit seiner 27 Jahre jüngeren Frau und Sekretärin Lotte aufs Bett und nahm, gemeinsam mit ihr, eine Überdosis Veronal?

Stefan Zweigs letzte Wochen: eine Spirale in den Lebensekel, Weltekel, deren Kreisen nach unten nur durch Momente wiedererwachter Hoffnungen und Genüsse kurz aufgehalten wird.

An diesem Nachmittag, im Palácio, wird die Szene gedreht, in der Zweig mit Freunden und seinem Übersetzer den Erfolg seines Brasilien-Buches feiert - 100 000 Exemplare sind verkauft worden.

Mitten hinein platzt die Nachricht von der Versenkung eines brasilianischen Frachters durch deutsche Torpedos. Er entrinnt Hitler auch in der neuen Heimat nicht, bald wird der Irre aus Braunau die Weltherrschaft an sich gerissen haben.

Doch Zweig lernt auch die trostlose Seite des Gastlandes kennen, ein Exil ohne brauchbare Bibliotheken, abgeschnitten vom geistreichen Umgang in seiner eigenen Sprache. Und die zynische: Er erfährt von einer jüdischen Mafia, die jungen Jüdinnen zur Flucht verhilft, dafür aber von ihnen verlangt, in Freudenhäusern in Buenos Aires und Rio anschaffen zu gehen.

Und er nimmt die schachernde, opportunistische, düstere Wirklichkeit seiner neuen Heimat zunehmend wahr. Zweig versucht sich als Emissär, der mit dem brasilianischen Diktator Getúlio Vargas über die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen verhandeln möchte - eine Zeit lang glaubt er sogar, dass dem ganzen jüdischen Volk in diesem unermesslich großen Land eine zweite Heimat angeboten werden könnte.

Die Paradoxie (und Zweigs Blindheit) besteht darin, dass er mit seinem Brasilien-Buch just jenem Regime eine Propaganda-Schrift in die Hand gedrückt hat, das sich ideologisch durchaus in Nazi-Nähe wohl fühlt - dem gleichgeschalteten »Estado Novo« des Getúlio Vargas.

Das Angebot, eine Vargas-Biografie zu schreiben, hat er dem Propaganda-Chef Lauro Pontes zunächst schlichtweg abgelehnt. Doch später scheint er zu einem Tauschhandel bereit gewesen zu sein - für die Erteilung von Visa an seine jüdischen Freunde verspricht er ihm, kurz vor seinem Tod, eine Serie von Biografien über berühmte Brasilianer.

Zweig, so scheint es, war wie so viele Schriftsteller und Künstler vor ihm, zum nützlichen Idioten eines machiavellistischen Spielers geworden.

Backs Kunst-Thriller stützt sich auf die Recherche von Alberto Dines' »Tod im Paradies«, die belegt, dass Zweig überstürzt aus Rio de Janeiro zurückgekehrt war nach Petrópolis, in dieses neblige Bergnest.

Er hatte das Karnevalstreiben in den Straßen und an den Stränden genossen in diesem heißen Februar 1942, und plötzlich schien die Entscheidung zum Suizid gefallen zu sein. Freunde beobachteten eine merkwürdige Erleichterung und Heiterkeit in diesen letzten Tagen.

Regisseur Back hält Zweigs Selbstmord für »eine letzte große und mysteriöse Geste«, die er nicht durch vordergründige Kausalitäten entwürdigen will. »Offenbar ist es wie ein Virus, das plötzlich ausbricht.« Schon einmal, 1921, hatte Zweig seiner damaligen Frau Friderike den gemeinsamen Selbstmord vorgeschlagen - sie, eine selbstbewusste, durchaus ebenbürtige Intellektuelle, hatte ihn beschieden, dass er mit ihr »als Begleiterin auf dieser Reise« nicht rechnen könne.

Mit Lotte, seiner Sekretärin und zweiten Frau, lag der Fall anders. Auch sie empfand das Leben zunehmend als Last. Vor allem aber: Ein Leben ohne Stefan Zweig wäre ihr bedeutungslos vorgekommen, so sehr war sie mit ihm und seinem Schaffen verwachsen.

Noch immer regt Stefan Zweig sein letztes Gastland zu fruchtbaren Auseinandersetzungen mit sich selber an - zu Zweigs 60. Todestag waren die Zeitungen voller Gedenken an diesen fremden Schwärmer, und sein Brasilien-Buch »Land der Zukunft« ist noch Jahrzehnte später Anlass für Essays, in denen seine Utopien an der oft schäbigen Realität gemessen werden.

Regisseur Sylvio Back, der in diesen Tagen den Rohschnitt seines Films fertig stellt - er soll für das Festival in Cannes eingereicht werden -, kennt Zweigs Bücher seit seiner Kindheit. Er ist in Blumenau im Süden Brasiliens aufgewachsen, wo noch heute vorwiegend Deutsch gesprochen wird, als Sohn eines jüdischen ungarischen Emigranten und einer deutschen Mutter.

Er ist einer der meistdekorierten gegenwärtigen brasilianischen Regisseure. Verwundert erzählt er von einem Essen, an dem er im vergangenen Jahr in Wien teilnahm: »Natürlich kannte jeder Zweig, aber kaum einer wusste, dass er sich in Brasilien umgebracht hatte.«

Backs Film ist kein Thriller im herkömmlichen Sinne, keine detektivische Recherche, sondern eine Phantasmagorie - in einer längeren trancehaften Sequenz etwa, während einer Voodoo-Zeremonie, erahnt der Autor den eigenen Tod. Backs Film, oft magisch übersteigernd, handelt vom Fremdsein und von dem Ohnmachtsverhältnis, in dem die Kunst zur Politik steht.

Wie anders auch will man den schaurigen Paradoxen beikommen, in denen Zweig sein Leben endete? Sein Abschiedsbrief schließt mit den Worten: »Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.« Bald darauf entschloss sich Brasiliens Diktator endlich, dem alliierten Kampf gegen Hitler beizutreten.

Trotz aller Enttäuschungen, die er durch die Politiker seines Gastlandes erlebte, schrieb Stefan Zweig in seinem Abschiedsbrief eine weitere Liebeserklärung: »Mit jedem Tag habe ich dies Land mehr lieben gelernt, und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.«

Das Verrückte ist - selbst 60 Jahre später noch kann man dieses Land »mit jedem Tag mehr lieben« lernen. Auch wenn es sich nicht mehr als lebensrettende Alternative anbieten muss. Auch wenn die Harmonie der Rassen und Klassen, die Zweig noch notierte, oft nur eine nette Lüge ist und es auch nicht unbedingt »leichter ist, arm zu sein«, und »alles Brutale und Sadistische ... den brasilianischen Menschen« nicht unbedingt »vollkommen fern« ist.

Doch man muss lernen, es zu lieben. Der Taumel führt nur zu fatalen Missverständnissen. Für Rüdiger Vogler ist die brasilianische Affäre zum Arbeitsaufenthalt nach 40 Drehtagen abgekühlt.

Er war Zweig in Brasilien. Aber er ist froh, in Wirklichkeit Rüdiger Vogler in Paris zu sein.

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