
Todesfälle in Pflegeheim Zuhören, bevor wieder Blut fließt


Blumen und Kerzen am Oberlinhaus in Potsdam
Foto: Martin Müller / imago imagesAngenommen, vergangene Woche hätte in einer deutschen Stadt eine Supermarktkassiererin vier ihrer Kunden mit einem Messer getötet und eine weitere Kundin schwer verletzt. Oder angenommen, der Physiotherapeut einer Fußballmannschaft hätte vier Fußballer getötet und einen weiteren schwer verletzt. Es wäre ziemlich viel los gewesen. Das ist alles nicht passiert.
Was aber passiert ist: Vier Menschen mit Behinderung wurden in dem Potsdamer Wohnheim, in dem sie lebten, umgebracht, eine weitere Bewohnerin wurde schwer verletzt. Als dringend tatverdächtig gilt eine Pflegerin, die in dem Heim gearbeitet hat.
Das Oberlinhaus, in dem die Taten passiert sind, ist eine christliche Einrichtung, in der Menschen mit verschiedenen Behinderungen leben. »Wir geben Menschen mit Behinderung mehr als ein Zuhause«, steht auf der Website, und, unter »Aktuelles«: »Wir Oberliner trauern um vier Menschen, die heute Nacht sterben mussten.« Menschen, die »sterben mussten«, das ist so eine Formulierung, die man oft liest, wenn Menschen getötet wurden, und üblicherweise ist sie fehl am Platz. Auch hier. Die zwei Männer und zwei Frauen, die getötet wurden, mussten ja eigentlich noch gar nicht sterben.
Im Moment ist öffentlich nicht viel über die Opfer bekannt. Sie sollen im Alter zwischen 31 bis 56 Jahren gewesen sein, und sie wiesen schwere Schnittverletzungen an der Kehle auf. Die 51-jährige Tatverdächtige ist in eine Psychiatrie gebracht worden. Über ihre Motive ist bislang nichts bekannt, Spekulationen gibt es aber natürlich trotzdem.
Der rbb sendete am Tag nach der Tat einen Beitrag dazu . »Was könnte jemanden dazu bewegen, so eine Tat zu begehen?«, heißt es in dem Video. »Es gibt viele Gründe, meint der Polizeipsychologe Dr. Gerd Reimann.« Reimann nennt dann drei mögliche Gründe: erstens Konflikte zwischen Täter und Opfern, zweitens »eine dramatische Überforderung des Täters«, drittens »eine Motivation, die Leute zu erlösen, von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind«.
Dramatische Überforderung? Erlösung von unheilbaren Leiden? Behinderungen sind nichts, was man »heilen« muss, denn sie sind keine Krankheiten. Und »Erlösung« – ernsthaft? Im Nationalsozialismus galt »Euthanasie« als »straffreie Erlösungstat«, das gilt aber heute nicht mehr. Natürlich befürwortet oder rechtfertigt der Psychologe im rbb-Beitrag diese Taten nicht, aber seine Aussage ist trotzdem fragwürdig. Hätte man diese Art Spekulation auch in einem anderen Fall als seriös erachtet?
Nochmal angenommen, ein Physiotherapeut hätte vier Fußballer getötet – was würde man davon halten, wenn dann ein Psychologe im Fernsehen sagt, dass der Physiotherapeut ja vielleicht die Fußballer von ihrem extrem anstrengenden Leben als Profisportler erlösen wollte? Es wäre komplett bizarr.
In den Medienberichten zum Potsdamer Fall war viel von »Schock« die Rede: »Oberlinhaus im Schock«, »Schock über Bluttat im Potsdamer Oberlinhaus«, »Mitarbeiter und Bewohner der Einrichtungen des Oberlinhauses unter Schock«, und so weiter. Nachvollziehbar, einerseits. Andererseits gab es viele Menschen, die die Taten von Potsdam weniger schockieren als eher in der Feststellung bestätigen, dass Menschen mit Behinderungen immer noch nicht hinreichend vor Gewalt geschützt werden – oft nicht mal in den Einrichtungen, die theoretisch für sie aufgebaut wurden.
»Das Oberlinhaus hat einen sehr guten Ruf«, sagte ein Sprecher nach der Tat. Gehabt, muss man wohl ergänzen. Spezielle Einrichtungen für Behinderte haben allerdings ziemlich oft für Unbeteiligte einen guten Ruf. Für Menschen mit Behinderungen oder deren Angehörige oft eher nicht. In Pflege- und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung gibt es immer wieder Diskriminierung und Gewalt. Frauen mit Behinderungen erleben außerdem, bis sie erwachsen sind, im Schnitt zwei- bis dreimal häufiger sexualisierte Gewalt als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt, bei Erwachsenen setzt sich diese Tendenz fort .
Behinderte Menschen sind überdurchschnittlich häufig von körperl, psych und sexual Gewalt betroffen. Jede 3.-4. behinderte Frau hat in der Kindheit sexual Gewalt erfahren. Das ist 2-3× häufiger als bei Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Keine Schutzmaßnahmen, kein Aufschrei.
— asha hedayati (@frauasha) May 1, 2021
Der Aktivist und Autor Raul Krauthausen schrieb nach den Taten im Oberlinhaus: »Solche Einrichtungen bergen strukturell gesehen ein Potenzial für Ungutes.« Er wies außerdem darauf hin, dass der Potsdamer Oberbürgermeister in seinem Statement von der »aufopferungsvollen Pflege« in dieser Einrichtung gesprochen habe und die Leiterin des Hauses über die »außerordentlich engagierten« Mitarbeitenden. »Wenn es um die Arbeit mit Menschen mit Behinderung geht, benutzen Menschen ohne Behinderung rasch paternalistische Superlative«, schreibt Krauthausen, »als wäre es eine Art ›Mission Impossible‹ und keine Dienstleistung.«
Permanent allein gegen Ausgrenzung
Es gibt seit Jahren, oder besser: Jahrzehnten, Kritik an den verschiedenen Arten von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Kritik, die aber wenig Gehör findet. So haben zum Beispiel auch Werkstätten, in denen Menschen mit Behinderung arbeiten, bei vielen Unwissenden einen guten Ruf. Nichtbehinderte Menschen können handgemachte Küchenutensilien, Seife oder Kerzenhalter und gleichzeitig das gute Gefühl kaufen, etwas aus einer solchen Werkstätte erworben zu haben, aber die wenigsten wissen, unter welchen Arbeitsbedingungen diese Produkte hergestellt werden.
Die Menschen, die dort arbeiten, gelten nicht als Arbeitnehmer*innen und bekommen dementsprechend auch keinen Mindestlohn. Oft verdienen sie unter 200 Euro, manchmal auch nur 80 – im Monat. Viele Werkstätten haben in der Coronapandemie die Löhne noch weiter gesenkt . Es gibt immer wieder Petitionen und Kampagnen, die die Bezahlung kritisieren, zuletzt etwa mit der Forderung »Stellt uns ein!« . Bisher sind die Löhne in Werkstätten für Menschen mit Behinderung oft ähnlich gering wie die für Strafgefangene, die im Gefängnis arbeiten müssen .
Theoretisch muss man nicht lange im Grundgesetz blättern, bis man auf das Thema Behinderung stößt. »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«, steht in Artikel 3. Praktisch aber ist die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung oft direkt in den Institutionen verankert, die speziell für sie errichtet wurden.
Sehr viele Menschen mit Behinderung leben und arbeiten nicht in solchen Einrichtungen, verfolgen aber sehr genau die Berichterstattung zu Gewalttaten wie der in Potsdam. Tanja Kollodzieyski, die auf Twitter als »RolliFräulein« schreibt, schrieb auf EditionF zu den Taten in Potsdam: »Mir als behindertem Menschen zeigte sich medial ein bizarres Bild. (...) Immer wieder wurde die Perspektive des Pflegepersonals in den Fokus gerückt, das nach Meinung vieler Menschen ›Außergewöhnliches‹ leistet. Zweifellos müssen die Bedingungen von Menschen, die in der Pflege arbeiten, verbessert werden. Aber verdammt: Was ist mit der Situation von Menschen mit Behinderung?«
Es könne zwar nie »die perfekte Sicherheit« für Menschen mit Behinderungen geben. Was es aber längst geben könnte: Mehr Interesse für ihre Situation, nicht erst, wenn einige von ihnen getötet werden. »Wir brauchen keinen Katastrophen-Tourismus und keine Sonnenschein-Solidarität« schrieb Kollodzieyski, »wir brauchen Verbündete auf Augenhöhe.«
Menschen mit Behinderung werden nicht »erlöst«, wenn sie getötet werden. Man könnte sie aber davon erlösen, permanent allein gegen Ausgrenzung kämpfen zu müssen.