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17. JUNI Total kaputt

aus DER SPIEGEL 22/1970

Die Demonstranten stürmen das Rathaus und verkünden emphatisch die »Wiedergeburt der deutschen Freiheit«. Auf den Straßen skandieren aufständische Arbeiter: »Wir wollen Freiheit, Recht und Brot, sonst schlagen wir die Bonzen tot.« Dann marschieren sie zum Postamt der Stadt Bitterfeld (Bezirk Halle) und telegraphieren an die Regierung der Arbeiter- und Bauernmacht, daß »wir sie abgesetzt haben«.

Solche Szenen vom Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953 sind nun in einem Fernsehfilm ("Gedenktag«; ARD, 31. Mai, 20.45 Uhr) zu sehen. Der NDR-Regisseur Dieter Wedel, 30, hat ihn geschrieben und inszeniert, um »die Fragwürdigkeit von Dokumentarspielen im Fernsehen zu exemplifizieren«.

Für sein Exempel filmte und interviewte der Autor fünf Augenzeugen vom Juni-Aufstand in Bitterfeld -- drei Arbeiter, einen Lehrer und einen Buchhalter -, die jetzt in der Bundesrepublik leben, und ließ ihre oft widersprüchlichen, von Eitelkeit und Selbstgefälligkeit gefärbten Berichte von Berufsakteuren nachspielen. Und mit dieser Stil-Mixtur aus Spielhandlung und authentischem Bild- und Tonmaterial hat der Hamburger TV-Mann die bürgerliche Legende vom antikommunistischen Freiheitskampf gründlich widerlegt.

In 110 Minuten, für die er zweieinhalb Monate in einer stillgelegten Fabrik, in Essen, Duisburg und Castrop-Rauxel mit insgesamt 1500 Statisten und einem alten Sowjet-Panzer vom Typ T 34/85 drehte, zeigt Wedel eine von politisch naiven Führern geleitete spontane Volkserhebung« die keineswegs die Beseitigung des Sozialismus wünschte.

Denn als der Zorn über die Normenerhöhung und die Verhaftung eines Lehrlings im Elektro-Chemischen Kombinat von Bitterfeld abgeklungen war, als die streikenden Werktätigen Zeitungskioske verbrannt, Autos umgestürzt und Scheiben zertrümmert hatten, als sie das Gefängnis und das SSD-Quartier gestürmt und den verängstigten Bürgermeister in der -- Rathaus-Toilette aufgestöbert hatten, kam ihnen »kein blasser Schimmer, wie es weitergehen soll«. Sie waren »total kaputt« und stärkten sich, ratlos palavernd, im Sitzungssaal des Magistrats mit Bier und Butterbroten.

Und als drei Russen-Panzer in die Stadt einrückten, »war der große Traum beendet«. Die »geistig überforderten Amateur-Revolutionäre« suchten durch die Hintertür des Rathauses das Weite und flohen in den Westen.

Nur einer blieb zurück. Der Mechaniker Walter Otmar büßte für »Boykotthetze« und »Friedensgefährdung« mit zwölf Jahren Zuchthaus.

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