ZEITGESCHICHTE Träume vom Terror
Ein Journalist fliegt über Nürnberg,
fischt mit einem Lasso Hitler aus dem Reichsparteitag heraus und versenkt ihn zwischen Deutschland und England im Meer - im Traum.
Ein Mann erzählt einen politischen Witz absichtlich so falsch, daß er sinnlos erscheint und ihn nicht mehr gefährden kann - im Traum.
Eine Hausfrau trennt das Hakenkreuz aus einer Nazi-Fahne, aber es wächst immer wieder nach - im Traum.
Derlei Nachtvisionen deutscher Schläfer sind in einem neuen Buch verzeichnet das der Flut - zeitgeschichtlicher Literatur über das Dritte Reich eine originelle Marginalie anfügt: »Das Dritte Reich des Traums«, eine Sammlung von Träumen aus der Hitler-Zeit, protokolliert und kommentiert von der ehemaligen Berliner Journalistin Charlotte Beradt, die 1939 emigrierte und heute in New York lebte.
Die Autorin, zuerst mit einem Journalisten, dann mit dem Berliner Rechtsanwalt und Roman-Autor Martin Beradt verheiratet, begann ihre Sammlung politischer Träume im März 1933. Sie notierte eigene Träume und solche von Verwandten, Freunden und Gelegenheitsbekannten; die Notizen verbarg sie in Buchrücken und verschickte sie an Freunde im Ausland.
Auf der Suche nach Spuren von Hitlers Politik im Traumleben der Deutschen fragte Charlotte Beradt zwischen 1933 und 1939 »jeden mir zugänglichen Alltagsmenschen ... immer ohne Preisgabe des Zwecks, denn ich wollte ungefärbte Antworten haben«. Der Zweck: Die rassisch verfolgte Juristenfrau hoffte, jene Träume »könnten zur Evidenz gehören, wenn dem Regime als Zeitphänomen einmal der Prozeß gemacht würde«.
Die Hoffnung hat nicht getrogen: Charlotte Beradts gesammelte Träume spiegeln oft beklemmend anschaulich Formen und Instrumente der totalen Herrschaft, der Anpassung an und der Unterwerfung unter das totalitäre Regime. Die Autorin analysiert sie nicht nach der Methode Sigmund Freuds, sondern eher nach den Kategorien der politischen Philosophin Hannah Arendt (von der sie Werke ins Deutsche übersetzt hat): »Diese Träume handeln zwar von gestörten menschlichen Beziehungen, aber durch die Umwelt gestörten ... Sie sind nahezu Bewußtseinsträume:«
Der Traum vom Lasso-Attentat ist der einzige Traum vom Tyrannenmord in der Beradt-Kollektion - er wurde auch erst nach geglückter. Flucht aus Deutschland in Prag geträumt. Die Mehrheit der Träume illustriert den Sog und Sieg der Diktatur, die Entstehung des Mitläufers, des NS-Untertans.
Eine junge Frau träumt schon 1933 von einer »Gedankenkontrollmaschine«. Ein Arzt sieht seine Wohnung wandlos und so sich selber schutzlos werden: »Laut Erlaß zur Abschaffung von Wänden vom 17. des Monats.« Eine Putzmacherin träumt vorsichtshalber »in russischer Sprache«, obwohl sie diese gar nicht beherrscht: »Damit ich mich selbst nicht verstehe.« Ein Büroangestellter träumt: »Göring selbst inspiziert mein Büro und nickt mir zufrieden zu, was mich leider hoch erfreut, obwohl ich bei mir denke, das fette Schwein.«
Den »Modelltraum« (Beradt) vom Zerbrechen eines Menschen unter der Diktatur träumt, drei Tage nach Hitlers Machtergreifung, ein Fabrikant: »Goebbels kommt in meine Fabrik. Er läßt die Belegschaft in zwei Reihen antreten. Dazwischen muß ich stehen und den Arm zum Hitlergruß heben. Es kostet mich eine halbe Stunde, den Arm, millimeterweise, hochzubekommen. Goebbels sieht meinen Anstrengungen wie einen Schauspiel zu ... Aber als ich den Arm endlich oben habe, sagt er: 'Ich wünsche Ihren Gruß nicht', dreht sich um und geht zur Tür. So stehe ich in meinem eigenen Betrieb ... am Pranger, mit gehobenem Arm. Ich bin körperlich dazu nur imstande, indem ich meine Augen auf seinen Klumpfuß hefte...«
Auch Gegner und Opfer des Regimes erliegen - makaberste Beispiele im »Dritten Reich des Traums« - schlafend dem Druck der Gleichschaltung und der Verführung zum Mitmachen. Träumend bitten sie etwa eine »Dienststelle zur Überwachung von Telefongesprächen« im voraus um Verzeihung oder erträumen sich, Ratgeber von Hitler, Göring oder Goebbels zu sein.
Eine Halbjüdin entwickelt im Traum Haßgefühle auf ihre - wach sehr geliebte - jüdische Mutter, sieht sich mit ihr unter einem Schild »Schädlinge raus« sitzen und ist schließlich froh Über ihren Tod. Ein jüdischer Rechtsanwalt träumt nach dem Erlaß der Nürnberger Gesetze, daß er sich im Berliner Tiergarten zwischen zwei Parkbänken, von denen eine für Juden verboten ist, auf einen Papierkorb setzt, mit einem Schild um den Hals: »Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz.«
Solche Traumparabeln, schreibt Charlotte Beradt, konnten »die Struktur einer Wirklichkeit deuten helfen, die sich gerade anschickte, zum Alptraum zu werden«.
Die Alpträume vom Terror griffen über den Herrschaftsbereich Hitlers hinaus und verfolgten noch die Entkommenen. Ein von den Nazis entlassener jüdischer Beamter träumte, er habe sich im Exil eine neue Existenz aufgebaut und könne sich nun sogar eine Bergbesteigung mit Führer leisten: »Und dann«, berichtete er Charlotte Beradt, »geschieht es, auf dem höchsten Gipfel. Der Führer wirft Cape und Kapuze ab und steht vor mir, in voller SA -Uniform.«
* Charlotte Beradt: »Das Dritte Reich des Traumas. Nymphenburger - Verlagshandlung, München; 152 Seiten; 14,80 Mark.
Traumsammlerin Charlotte Beradt
Wachsendes Hakenkreuz