SCHRIFTSTELLER Traum von Maigret
Es ist noch keine zweieinhalb Jahre her, da informierte er die Welt, daß seine Laufbahn als Romancier beendet sei. Die berühmte belgische Schreib-Maschine Georges Simenon, seit einem halben Jahrhundert auf Hochtouren. stelle -- so hieß es -- nach 215 Büchern ihre Arbeit ein, der Vater des Kommissars Maigret trete in den Ruhestand.
Aber ganz kann er's eben auch als »Rentner« von 72 nicht lassen; auch als »Kamillentee trinkender Greis im Schlafrock« kommt er gegen das »dringende Bedürfnis, mich auszudrücken«, schlecht an. Und so produziert und publiziert er denn, wenngleich »sozusagen nicht mehr von Berufs wegen«, noch ein wenig weiter:
Im vergangenen Herbst veröffentlichte er einen »Brief an meine Mutter«, die vor Jahren steinalt in seiner Geburtsstadt Lüttich gestorben war. Und erst unlängst erschienen unter dem Titel »Un homme comme un autre«
* Georges Simenon: »Lettre à ma mere«. 124 Seiten; 25 Franc. -- »Un homme comme un autre«, 316 Seiten: 48,70 Franc. Presses de la Cité, Paris.
(Ein Mann wie jeder andere) Erinnerungen und Bekenntnisse, die er, »um mit mir selbst zu schwatzen«, 1973 auf Tonband diktiert hatte*.
Es sind nicht die ersten Konfessionen, mit denen Simenon aufwartet; die freimütigsten, bittersten sind es gewiß. Als er seine morgendlichen Séancen im roten Sessel vorm Mikrophon begann, war er gerade 70 Jahre alt geworden. Vor wenigen Monaten hatte er unvermittelt und »mit nahezu sadistischer Freude« seine in Ruhm und Luxus gebettete alte Existenz aufgegeben: Der Rolls-Royce war verkauft, das Personal entlassen, die illustre Riesen-Villa in Epalinges überm Genfer See stand leer.
Mit seinem »Schutzengel« Teresa und seinem Sohn Pierre, damals 14, lebte er in einem Vier-Zimmer-Appartement in einem Lausanner Wohnturm (aus dem er inzwischen schon wieder in ein kleines Haus mit winzigem Garten umgezogen ist).
Er fühlt sich nun alt, verbraucht, von immer wiederkehrenden Schwindelanfällen bedroht. Aber er genießt auch die »köstlichen Momente« seines anonymen Rentner-Daseins. »Vielleicht zum erstenmal seit 50 Jahren«, so empfindet er, sei er ganz »ich selbst«, nicht mehr »der Sklave meiner Romanfiguren«. »Diese Krankheit« des Schreibens ist vorüber, der »Alptraum« vorbei.
»Fast mit Scham« gedenkt er seiner Romane: Sechs, zuletzt vier Stück hat er pro Jahr hervorgebracht. Und er fragt sich, warum er von Jugend an »mit dem Schweiß auf der Stirn« geschuftet, warum er bis zur Erschöpfung »die Hunderttausende von Zeilen getippt« und dieses »unnatürliche, mir fremde Leben geführt« habe. Antwort: weil er »die vielen Jahre über stets unbefriedigt gewesen« sei. »Ich war immer ein einsamer Mann.«
Daran, so sieht er es jetzt, haben auch aller Reichtum und Erfolg, sämtliche Weltreisen, die zahlreichen Umzüge seines Lebens, die vielerlei Existenzen, die er sich aufbaute und wieder mutwillig zerstörte, nichts ändern können, auch seine beiden Ehen nicht, im Gegenteil. sie haben ihm viel Verdruß gebracht.
Die Belgierin Régine, die er mit 20 heiratete, habe ihm mit ihrer »fast krankhaften Eifersucht« über zwei Jahrzehnte lang seinen mächtigen Appetit auf die Frauen zu verderben versucht. Und die 1950 geschlossene Ehe mit der so schutzlos wirkenden Kanadierin Denise ("Ich bin nicht der erste Dummkopf, der Pygmalion spielen wollte") ist nach schwerer »Familienkrise« auch längst in die Brüche gegangen -- »wir hören«, sagt Simenon, »nur noch durch unsere Rechtsanwälte voneinander«.
Selbst seinen vier Kindern -- drei sind erwachsen und außer Haus -- fühlt er sich inzwischen ein wenig fremd. Gewiß, er liebt sie »zutiefst« und schreibt ihnen Schecks aus, aber er weiß, er zählt nicht mehr viel; er ist für sie nur noch »der Alte«, eine »eher lästige Person
Doch da ist immer noch »T » die italienische Hausangestellte. 24 Jahre jünger als Simenon, die ihm schon oben in Epalinges in »schwarzen Stunden« beigestanden, die ihn »ums Kap meiner 70 Jahre« begleitet hat, die ihn umhegt, in seinen Ängsten beschwichtigt, ihm das »dritte Alter« erhellt. Mit ihr bildet er endlich »ein vollkommenes Paar«, lebt er »in Symbiose«.
Und alles andere ist ohne Bedeutung. Besucher empfängt er kaum noch, sie ermüden ihn. Seine Bücher interessieren ihn nicht mehr; um die immer noch eintreffenden Leserbriefe, die telephonischen Anfragen, den Verkauf von Übersetzungs- und Verfilmungsrechten kümmert sich am anderen Ende von Lausanne seine langjährige Sekretärin Aitken -- er hat ihr Büro noch nie betreten.
Er ist jetzt ein »alter Fisch«, nicht mehr »das Phänomen Simenon«, sondern »ein Mann wie jeder andere« und deshalb so etwas wie eine Simenon-Figur. Er denkt an den »kleinen Sim«, dieses »ferne Ich«, das ihm »fast schon wie ein fremdes Wesen« vorkommt, an seine Anfänge im Paris der zwanziger und dreißiger Jahre, an die Mädchen vom Boulevard des Batignolles. Einmal träumt er auch von Maigret, einem Maigret, der gleich ihm in Pension ist und in Meung-sur-Loire im Garten arbeitet.
Und er denkt an all die letzten Male, daß er in seinem Leben etwas getan hat -an das letzte Mal, daß er einen Wagen gesteuert« daß er Golf gespielt hat, daß er geflogen ist, in seinem Swimming-pool badete, das letzte Mal, daß er Schreibmaschine schrieb. »Das Alter«, so scheint ihm. »ist der Weg in die Abstraktion.
»Wir Wichtigtuer von einst«, sagt er, »sind nur noch Greise, die an ihre Pillen, Tropfen und Wehwehchen denken.« Doch wenn er dann die Augen schließt, wenn er einschläft, wenn er träumt, sieht er sich immer als den kleinen Jungen aus Lüttich.
Seiner Mutter, die ihn und seinen Reichtum stets mit Mißtrauen betrachtet hatte, schrieb er in die Ewigkeit nach: »Du hast dein Leben lang der Welt der kleinen Leute angehört, und ich fühle jetzt, daß es auch die meine ist, denn es ist die Welt der Wahrheit.«